Details zum Unglück von David Lama, Hansjörg Auer und Jess Roskelley

Am 16. April 2019 starben Hansjörg Auer, David Lama und Jess Roskelley am Howse Peak in Kanada. John Roskelley, der Vater von Jess, rekonstruierte den Unfall im Detail anhand von Fotos und GPS-Daten ihrer Handys und Kameras.

Von John Roskelley/Übersetzung Jochen Hemmleb – Erstmals erschienen in der Fachzeitschrift bergundsteigen

Am 16. April 2019 um 5:51 Uhr morgens befanden sich die drei Kletterer bei kaltem, aber klarem Wetter im Aufstieg über die Steilflanken unterhalb von „M16“, einer schwierigen Mixed-Route von Steve House, Barry Blanchard und Scott Backes. Die Route hatte erst eine Begehung.

Hansjörg war zu Fuß unterwegs, David und Jess benutzten Tourenskier. Wenig später ließen David und Jess ihre Skier auf einer langen Traverse im Schnee zurück, um zu Hansjörg aufzuschließen. Alle drei erreichten kurz vor 7:00 Uhr den Beginn der ersten Schwierigkeiten, einen Wasserfall im Schwierigkeitsgrad WI6 rund 340 Meter über ihrem Lager.

Hansjörg übernahm den ersten Vorstieg und bewältigte die Seillänge in 15 Minuten, nachdem er zuvor eine über ihn hinwegfegende Spindriftlawine abgewartet hatte. Weitere 15 Minuten später befanden sich alle drei am Stand oberhalb der Seillänge. Weil er entweder eine neue Variante suchte oder die Verhältnisse der beiden Routen über ihm – „M16“ und „Howse of Cards“ – so spät in der Saison nicht mehr gut waren, querte David nach links entlang eines Schneebands zu einer schwierigen, von rechts nach links geneigten Rampe.

Jess folgte, indem er eine Petzl Micro Traxion benutzte, während David gleichzeitig Hansjörg nachsicherte. Sie kletterten etwa 80 Meter über die Rampe empor, bis David um 8:36 Uhr über ein weiteres horizontales Schneeband wieder nach links querte, um die oberen Wasserfall-Seillängen der „King Line“ zu suchen. So wird eine noch nicht erstbegangene Mixed-Linie links von der Route „M16“ genannt. David führte den Wasserfall (WI6+), Jess und Hansjörg folgten schnell nach.

David quert nach links, Jess sichert. Foto: Hansjörg

Am Ausstieg des Wasserfalls nach den Hauptschwierigkeiten banden sich die drei aus und verstauten die Seile in ihren Rucksäcken. 50 Minuten später, um 9:42 Uhr, fotografierte Hansjörg David und Jess, wie sie sich dem Ende einer langen Schneerinne über dem Wasserfall der „King Line“ näherten.

Da über ihnen 450 Meter offene und lawinengefährdete Schneeflanken sowie kurze Mixed-Passagen lagen, querten die drei um 9:57 Uhr abermals nach links, um eine Schneerippe auf 2832 Meter zu erreichen. Diese führte sie zu einer 30 Meter breiten Schneerinne, dem rechten Ast einer größeren, mäßig geneigten Schneemulde und eines Rinnensystems oberhalb der Route „Life by the Drop“.

Jess, der knöcheltief im von der Sonne aufgeweichten Schnee stand, stieg in der Rinne, die auf den Südwestgrat leitete, vor. Um 11:02 Uhr führte Jess, der nun an einem Einzelstrang gesichert war, eine schwierige Mixed-Seillänge am Grat. Nach über 300 Metern Mixed-Kletterei erreichte die Dreierseilschaft den 3295 Meter hohen Gipfel.

Wenig später schoss Hansjörg das erste Gipfelfoto. Es war 12:41 Uhr. Die Sonne schien, aber es zogen erste Wolken auf. Kurze Zeit nachdem Jess um 12:44 Uhr sein Gipfelfoto mit allen drei Kletterern aufgenommen hatte, begannen sie mit dem Abstieg.

Hansjörg machte noch einige Aufnahmen während der zahlreichen Abseillängen am Grat. Um 13:27 schoss er das letzte Bild, das auf einer der drei Kameras gefunden wurde.

Das Foto zeigt David am Fuß der letzten Abseillänge vom Südwestgrat in die Schneerinne, durch die sie aufgestiegen waren. In der unteren rechten Bildecke ist die Gratschneide mit ihren Aufstiegsspuren sichtbar.

Gipfelselfie. Foto: Jess

Nun nahmen die drei die Seile in Schlaufen auf, um schnell über die bereits aufgeweichte Schneeflanke zur Querung zu gelangen, die aus der trichterförmigen Mulde über dem Ausstieg der Route „Life by the Drop“ herausführt. Schon im Aufstieg waren sie diese mäßig steilen Schneeflanken unangeseilt gegangen. Vom Südwestgrat waren es 165 Höhenmeter bis hinab zum unteren Ende der Schneerinne und der Traverse hinüber zur weiteren Rinne oberhalb der „King Line“, auf die weitere Abseillängen folgen würden.

Beim Abziehen der beiden Seile, die mit zwei übereinanderliegenden Sackstichknoten verbunden waren, knüpfte Jess an der Mittelmarkierung beider Stränge einen erneuten Sackstich, sodass er zwei etwa 50 Zentimeter lange Schlaufen erhielt. Er schob seinen Arm durch die Schlaufen, warf sie über seinen Nacken und schoss so die vier Seilstränge auf.

Aus dem aufgeschossenen und nun vor seiner Brust hängenden Seil nahm er jeweils eine Schlaufe des grünen und blauen Strangs, knüpfte in sie einen Sackstich normaler Größe und hängte diese Schlaufe mit einem Karabiner in das Schaftende eines seiner Eisgeräte. Der Knoten war rund 6,5 Meter von der zentralen Doppelschlaufe um seine Schultern entfernt.

Das letzte Foto von den dreien.
Das Foto zeigt David am Fuß der letzten
Abseillänge vom Südwestgrat in die
Schneerinne, durch die sie aufgestiegen waren. Foto: Hansjörg
Das letzte Foto von den Dreien. Das Foto zeigt David am Fuß der letzten Abseillänge vom Südwestgrat in die Schneerinne, durch die sie aufgestiegen waren. Foto: Hansjörg

Laut einem ehemaligen Kletterpartner nutzte Jess diese Technik, um beim unangeseilten Gehen mit aufgeschossenem Seil einen beweglichen Fixpunkt zu haben. Hansjörg, David und Jess setzten ihren ungesicherten Abstieg über die Schneeflanke fort.

Alles spricht dafür, dass die drei beabsichtigten, über ihre Aufstiegsroute abzusteigen.

Alles spricht dafür, dass die drei beabsichtigten, über ihre Aufstiegsroute abzusteigen – sie wussten, wo sich mögliche Abseilpunkte befanden; David und Jess hatten ihre Skier auf der Route zurückgelassen, und Jess war nach einem Telefonat mit mir zwei Tage vor ihrem Aufbruch davon überzeugt, dass ein Abstieg über den Aufstiegsweg die sicherste Alternative war (Jess’ Vater hatte vor etlichen Jahren den Nordostpfeiler des Howse Peak begangen und kannte die verschiedenen Abstiegsmöglichkeiten; Anm.).

Quentin Roberts fotografiert einen Lawinenabgang am Howse Peak.

Als sie in der frühen Nachmittagssonne abstiegen, löste sich ein Schneebrett, bevor sie die Rinne Richtung „King Line“ verlassen konnten. Höchstwahrscheinlich hörten sie, wie der Hang anriss, drehten sich um und bereiteten sich auf die unausweichliche Gewalt vor, die über sie hereinbrechen würde. Das abgebrochene Schaftende von einem seiner Eisgeräte und der darin eingehängte verbogene Karabiner, den ich später fand, zeigen, dass Jess noch sein Eisgerät mit merklicher Kraft in das Eis unter dem Schnee schlagen konnte, bevor ihn die volle Wucht der Lawine traf.

Höchstwahrscheinlich hörten sie, wie der Hang anriss, drehten sich um und bereiteten sich auf die unausweichliche Gewalt vor, die über sie hereinbrechen würde.

Sie überwältigte ihn und er verlor den Halt. Nach sechs Metern Fall straffte sich das Seil zwischen dem Eisgerät und den Schlaufen um Jess’ Schultern, und die volle Wucht der Lawine wirkte nun auf die Knoten ein, wodurch das Schaftende des Eisgeräts abbrach. Die Knoten waren später so fest zusammengezogen, als wären sie verschweißt worden.

Ich habe keinen Zweifel, dass David wie auch Hansjörg ebenso ihre Eisgeräte ins Eis schlugen. Aber sie waren wohl nicht mit ihren Eisgeräten verbunden.

Ich habe keinen Zweifel, dass David wie auch Hansjörg ebenso ihre Eisgeräte ins Eis schlugen. Aber sie waren wohl nicht mit ihren Eisgeräten verbunden. Tatsächlich benutzten weder David noch Hansjörg bei dieser Kletterei Handschlaufen. Ich fand beide Eisgeräte von Jess, aber keines von David und nur eines von Hansjörg, welches unbeschädigt war. Als Jess geborgen wurde, waren sein Torso und seine beiden Beine mehrfach von den beiden Seilen umwickelt.

In Rot die Aufstiegsroute der drei, in Schwarz die Linie der Lawine.

Hansjörg schien kein Seil am Körper gehabt zu haben, während David in einige Schlingen eingewickelt war. Alle drei Bergsteiger wurden in die Schneemulde und über die Route „Life by the Drop“ hinabgespült. Am gleichen Tag, dem 16. April 2019 kurz vor 14 Uhr, parkte Quentin Roberts, ein erfahrener Bergsteiger aus Canmore, seinen Wagen am Icefield Highway, um die Routen am Howse Peak zu inspizieren. Als sein Partner und er die Ostwand betrachteten, fegte eine Lawine durch die Mulde oberhalb der Route „Life by the Drop“ und zerstäubte auf dem Gletscher am Wandfuß.

Als sein Partner und er die Ostwand betrachteten, fegte eine Lawine durch die Mulde oberhalb der Route „Life by the Drop“ und zerstäubte auf dem Gletscher am Wandfuß.

Sie wussten nicht, dass sich Hansjörg, David und Jess zu dieser Zeit in der Wand befanden. Roberts rannte zurück zu seinem Auto, holte seine Kamera und schoss ein Foto der mächtigen Schneewolke, die sich am Fuß der Wand bildete. Es war 13:58 Uhr. 31 Minuten nachdem Hansjörg David fotografiert hatte, wie er sich nach dem Abseilen am oberen Ende der Schneerinne von den Seilen entfernt.

Nachdem sich Jess bis zum Morgen des 17. April nicht gemeldet hatte, verständigte ich die Bergrettung.

Über Nacht hatte sich der Himmel bewölkt und nur die untere Hälfte der Ostwand war sichtbar. Beim zweiten Suchflug machte die Helikopterbesatzung in halber Höhe des Lawinenkegels unter „Life by the Drop“ einen oder zwei Körper aus, teilweise vom Schnee begraben. Aufgrund der hohen Lawinengefahr und zeitweiligen Wetterverschlechterung war es erst am 21. April möglich, ein Bergrettungsteam auf dem Lawinenkegel abzusetzen. Die Körper waren inzwischen von weiteren Lawinen verschüttet worden und konnten erst durch den Einsatz eines Lawinenhundes lokalisiert werden.

Jess, David und Hansjörg lagen dicht beieinander. Um die Körper schnell aus dem harten Lawinenschnee zu befreien, mussten die Bergretter die Seile, in die David und Jess eingewickelt waren, zerschneiden.

Anschließend wurden die Leichen per Longline zum Wandfuß geflogen. Bergretter Grant Statham sagte, er habe während eines Erkundungsflugs am 20. April keine Anrisskante einer Lawine in der Abstiegsrinne oder der darunterliegenden Mulde ausmachen können, wobei eine solche Kante durch die zwischenzeitlichen Schneefälle wieder überdeckt gewesen sein könnte.


Ein Video in Gedenken an David Lama


Da sich die Leichen bei der ersten Sichtung auf dem Lawinenkegel am 17. April nahe der Oberfläche befanden, scheint ein vergleichsweise kleines Schneebrett als Unfallursache glaubhaft (es wurde auch der Abbruch einer Wechte vom Grat oberhalb diskutiert; Anm.).

Da sich die Leichen bei der ersten Sichtung nahe der Oberfläche befanden, scheint ein vergleichsweise kleines Schneebrett als Unfallursache glaubhaft.

Der Unfall dürfte sich in dem Zeitfenster zwischen dem Abstieg der Bergsteiger in die Schneerinne nach 13:27 Uhr und der von Quentin Roberts fotografierten Lawine um 13:58 ereignet haben. Hansjörg, David und Jess hatten die Ostwand des Howse Peak von ihrem Lager am Wandfuß bis zum Gipfel – ein Höhenunterschied von 1340 Metern – in weniger als sieben Stunden durchklettert.

Zu wissen, was mit diesen drei jungen Männern in den letzten Momenten ihres Lebens geschehen ist, bringt sie nicht wieder in unsere Arme zurück. Aber die Geschichte ihrer letzten Klettertour hilft vielleicht ihren Familien, Freunden und Liebsten, leichter damit abzuschließen und Frieden zu finden.

John Roskelley

Dies ist das Resultat ihrer Stärke, ihres Talents und ihrer Beharrlichkeit. Ihr Tod jedoch belegt einmal mehr, dass der Berg die letzte Entscheidung über Erfolg oder Scheitern trifft.

Der Bericht basiert auf den Fotos der drei Bergsteiger, den Ausrüstungsgegenständen, die sich bei ihren Leichen und am Unfallort fanden, den detaillierten Informationen des Bergrettungsmanns Grant Statham sowie drei anschließenden Exkursionen zur Unfallstelle, die ich selbst unternahm. Jess trug sein iPhone bei sich, als er geborgen wurde. Es lieferte exakte Zeitangaben, Höhendaten und GPS-Koordinaten für jedes seiner Fotos. Die Koordinaten wurden auf Google-Earth übertragen und dort lokalisiert.
Diese belegten, dass die drei eine neue Variante in der Ostwand des Howse Peak begangen hatten und wann sie den Gipfel erreicht hatten. Bei meinem zweiten Aufstieg zur Unfallstelle am 2. Juni 2019 fanden Tim Sanford, ein guter Freund von Jess, und ich Davids GoPro und Hansjörgs Kamera, deren Bilder Details ihrer Route enthüllten. Diese Aufnahmen glich ich mit jenen von Jess‘ iPhone ab und erhielt so eine exakte Zeitachse.
Damit konnten die Bergrettungsmänner Grant Statham und Steve Holeczi die Route der drei Bergsteiger Seillänge für Seillänge rekonstruieren. Die gefundenen Ausrüstungsgegenstände zeugten von der übermächtigen Naturgewalt, welche die Kletterer tötete. Sie ließen mich anfänglich aber mit genauso vielen Fragen wie Antworten zurück, was nach Hansjörgs letztem Foto von David geschehen war. Seit dem 4. August lagen über zwei Monate lang mehr als 30 Stücke ihrer beiden Seile auf dem Fußboden eines leeren Zimmers in meinem Haus ausgebreitet, während ich versuchte, den Sinn von vier Knoten zu verstehen, die sie in diese Seile geknüpft hatten. Knapp sechs Monate nach dem Unfall fand ich schließlich die Antworten.

John Roskelley, 4.2.2021

John Roskelley, Vater des Verunglückten Jess Roskelley, ist ein amerikanischer Bergsteiger und Autor. Er blickt auf zahlreiche Erstbegehungen zurück und stand auf einigen 7.000ern und 8.000ern.


Über die Zeitschrift bergundsteigen

Bergundsteigen ist eine internationale Zeitschrift für Sicherheit und Risiko im Bergsport und beleuchtet die Themen Ausrüstung, Bergrettung, Seiltechnik, Unfall- und Lawinenkunde. Herausgegeben wird bergundsteigen von den Alpenvereinen Österreichs (ÖAV), Deutschlands (DAV), Südtirols (AVS) und der Schweiz (SAC).


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Credits: Dieser Artikel erschien erstmals in der Fachzeitschrift bergundsteigen.

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