Die Eigernordwand hat noch lange nicht ausgedient

Der Historiker Rainer Rettner besitzt das grösste Privatarchiv zur Eigernordwand. Der Buchautor sagt, warum die legendäre Wand bis heute mit Tragödien verbunden wird – und wo sich der Klimawandel am deutlichsten zeigt.

Rainer Rettner kennt die Eigernordwand wie kein anderer. Persönlich wandert der Deutsche zwar lieber und doch kann er jeden Quadratmeter der wohl berühmtesten Felswand Europas benennen, er weiss wer, wo, wann und wie erfolgreich war oder verunglückt ist.

Diese Wand fasziniert mich seit dem ersten Moment, als ich sie erblickte.

Rainer Rettner

Er besitzt das grösste Privatarchiv, hat zig Bilder und Originaldokumente zusammengetragen. An einem sonnigen Septembernachmittag setzen wir uns bei der Station Eigergletscher zum Gespräch hin und sprechen im Angesicht des Eigers über das neue Buch, das Rettner zusammen mit Jochen Hemmleb und Roger Schäli herausgegeben hat. „Passion Eiger“ heisst es.

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Roger Schäli in der neuesten Route der Eiger Nordwand: Merci La Vie. (Bild Severin Karrer – mountainfeeling)

Herr Rettner, wieso braucht es ein weiteres Buch über den Eiger?

Durch die Wand ziehen heute fast 40 unterschiedliche Routen, hinter jeder einzelnen stecken spannende Geschichten. Bekannt sind vor allem die Anfänge, also die Dramen ab 1935 und natürlich die Erstbegehung durch Heckmair 1938 und Co. Ab 1966 gab es viele spektakuläre neue Routen, die viel weniger dokumentiert wurden. Das wollten wir nachholen.

Zum Beispiel die Harlin-Direttissima?

… wobei diese Geschichte noch zu den gut dokumentierten gehört. Eine deutsche und eine angloamerikanische Expedition wollten 1966 die erste Direttissima am Eiger schaffen, also möglichst direkt auf den Gipfel. Zuerst waren sie Rivalen, später schlossen sie sich zusammen. John Harlin, der amerikanische Leader, der von der Direktlinie besessen war, stürzte ab, als ein Seil riss. Nach einem Monat standen ein Schotte und vier Deutsche auf dem Gipfel. Anders als die Linie der Erstbegeher um Anderl Heckmair wurde die Direttissima aber nicht nur gefeiert, sondern auch stark kritisiert.

Roger Schäli gehört zu den aktivsten Erschliessern der neueren Generation. (Bild Severin Karrer – mountainfeeling)

Weswegen?

Der Gedanke der Direttissima besagt, dass die ideale Linie «dem Weg des fallenden Tropfens» folgt. Also in direkter Linie zum Gipfel. Man nutzte daher nicht immer die natürlichen Schwachstellen der Wand, sondern arbeitete sich mit grossem Materialaufwand empor, verlegte Fixseile und stieg daran häufig hoch und runter in der Wand. Die Presse verglich das sogar mit einer Baustelle.

Manchmal verbrachte man die Nacht feiernd auf der Kleinen Scheidegg und stieg anderntags an den Fixseilen wieder hoch, um die Kletterei fortzusetzen.

Trotzdem war es eine starke Route, eben im Stil dieser Zeit durchgeführt. Demgegenüber ist die Heckmair-Route eine ganz andere Linie: Es gibt viele Quergänge, die Linie ist dadurch alles andere als direkt und misst rund drei Kilometer, obschon die Wand «nur» 1800 Meter hoch ist.

Passion Eiger – Das Buch von Roger Schäli

Dabei ging man schon ganz am Anfang davon aus, dass der direkteste Weg der beste war.

Genau. Als die beiden Münchner Max Sedlmayr und Karl Mehringer 1935 anreisten, beobachteten sie die Wand eine Woche lang und erkannten, dass es im zentralen Teil oft gefährlichen Steinschlag gab. Also dachten sie wohl, man müsste auf geradem Weg so schnell wie möglich hoch.

Sie kamen bis zum zweiten Eisfeld, wobei sie bereits bis dorthin Kletterstellen im sechsten Grad bewältigen mussten, was damals das Limit des Menschenmöglichen war.

Sie gerieten in einen Wettersturz und starben oberhalb des zweiten Eisfelds. Die Stelle, wo man dann eine der Leichen aus einem Flugzeug sichtete, trägt seither den Namen Todesbiwak und wird heute noch als Übernachtungslager genutzt.

Weshalb hält der Mythos Eiger bis heute?

Die Wand liegt einen Steinwurf von der Kleinen Scheidegg entfernt, von wo aus durchs Fernrohr schon 1935 sehr genau zugeschaut wurde. Die Tragödien wurden ausgeschlachtet, nacherzählt, verfilmt. Das brachte ihm einen Ruf, der bis heute anhält. Auch wenn das mit der heutigen Realität teilweise nicht mehr viel zu tun hat.

Das Drama am Eiger

Wie meinen Sie das?

Es gibt längst unzählige Routen im Alpenraum, die um ein Vielfaches schwieriger sind als die klassische Heckmair-Route, doch davon nimmt die Öffentlichkeit kaum Kenntnis. Die Eigernordwand bleibt ein Begriff, der eng an die Tragödien geknüpft ist, die vor über 80 Jahren geschahen. Damals gab es keine zuverlässigen Wetterprognosen, weder Handy noch Helme, und schon gar keine Rettungshelikopter. Dafür Seile, die rissen, und schwere Schuhe mit mühsam zu fixierenden Steigeisen. Kein Vergleich mit heute.

Sprechen wir über den Zeitraum ab 1966. Was geschah dann?

Bis in die 60er wurde die Heckmair-Route vielfach wiederholt. Das öffentliche Interesse daran war so gross, dass selbst die x-ten Wiederholer noch als mediale Stars gefeiert wurden. Doch irgendwann ermüdete das. Eine direkte Linie zum Gipfel wurde als das «letzte Problem der Westalpen» definiert. Die Harlin-Route war dann zwar die erste Direktroute, doch wurde sie eben auch stark kritisiert.

Es folgten die Japaner mit einer Sommer-Direktlinie, in den 1970ern dann die Tschechen. 1983 vollendete der Slowake Pavel Pochylý die Ideal-Direttissima, welche 1935 Sedlmayr und Mehringer im unteren Wandteil begangen hatten, ehe sie starben. Er gehört zu den vielen spannenden Köpfen, die in der Zeit zwischen 1966 und 1991 am Eiger auftraten und auf deren Geschichten wir im Buch den Fokus legen.

Wie hat sich die Eigernordwand seit 1938 verändert?

Deutlich sichtbar ist der Klimawandel: Die beiden markanten Eisfelder, die früher ganzjährig Bestand hatten, verschwinden heute im Sommer. Die Heckmair-Route wird seit etwa 15 Jahren kaum mehr im Sommer geklettert, der Steinschlag ist zu gefährlich, und die Bedingungen sind zu schlecht in der auftauenden Wand.

1980 war eine Winterbegehung noch eine Sensation.

Heute ist das der Normalfall, während sich im Sommer höchstens noch irgendwelche Koreaner in die zentrale Wand trauen, die diesen Wandel noch nicht mitbekommen haben. Davon ausgenommen ist der rechte Wandteil mit dem Genferpfeiler. Da hat das Klettern im Sommer stark zugenommen. Auch das ist ein sichtbarer Wandel, ein gesellschaftlicher.

Immer mehr Sportkletterrouten entstehen am Genferpfeiler der Eigernordwand. (Bild Severin Karrer – mountainfeeling)

Inwiefern?

Das alpine Sportklettern hat insgesamt stark zugenommen. Am Genferpfeiler sowie links und rechts davon verlaufen viele Routen, die in reiner Felskletterei begangen werden. Dort ist der Fels kompakt und trocken, es gibt kaum Steinschlag. Da geht es um den Freiklettergedanken: Der Weg ist das Ziel – nicht der Gipfel.

Der Eiger hat also noch nicht ausgedient?

Noch lange nicht! Die Faszination für die Heckmair-Route ist im Winter ungebrochen. Da sind bei guten Verhältnissen, welche über die sozialen Medien natürlich wie ein Lauffeuer die Runde machen, locker mal zehn Seilschaften gleichzeitig am Werk. Und im rechten Wandteil gab es in den letzten Jahren viele neue Felsrouten, da greift jetzt die Generation Kletterer an, die mit Kletterhallen gross wurden.

Im rechten Wandteil greift jetzt die Generation Kletterer an, die mit Kletterhallen gross wurden.

Einzig die zahlreichen Direktlinien im zentralen Wandteil sind stark aus der Mode gekommen. Davon sind viele bis heute nicht einmal wiederholt worden. Roger Schäli ist einer der wenigen Alpinisten, die sich auch dieser Routen angenommen haben. Auch deshalb wollten Jochen Hemmleb und ich ihn unbedingt als Co-Autor mit dabeihaben.


Kurze Chronik der Kletterei am Eiger

  • Mit einer Höhe von 1800 Metern ist die Eigernordwand die höchste Wand der Alpen.
  • Ab ungefähr 1900 geriet sie in den Fokus von Bergsteigern. 1911 kletterten die beiden Bergführer Christian Almer und Josef Knubel mit einem englischen Gast den unteren Wandteil bis zum Stollenloch. Ab dort steilt die Wand auf, und die Kletterei wird zusehends schwieriger.
  • Es sollte noch über 20 Jahre dauern, ehe man es wagte, auch über das Stollenloch der Jungfraubahn hinauszuklettern. Zuerst befasste man sich mit dem linken Wandteil, dessen oberer Teil einen relativ einfach zu begehenden Eisschild aufweist. 1932 gelang die sogenannte Lauper-Route über diesen Weg zum Gipfel. Dennoch galt die Eigernordwand weiterhin als unbezwungen, denn die Lauper-Route umgeht den zentralen Wandteil und verläuft über die eigentliche Nordostwand.
  • 1935 wagten die Münchner Max Sedlmayr und Karl Mehringer den ersten Versuch durch die zentrale Wand. Sie starben in einem Sturm auf Höhe des zweiten Eisfelds. Bis zur erfolgreichen Erstbegehung 1938 durch Anderl Heckmair und Co. fanden noch sieben weitere Anwärter den Tod.
  • Heute verlaufen 40 unterschiedliche Routen durch die Wand.
  • Seit 1935 fanden 72 Bergsteiger den Tod bei einem Besteigungsversuch, die Leichen von 7 von ihnen wurden nie gefunden.

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Credits: Text Dominik Osswald, Bildmaterial Severin Karrer / mountainfeeling

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