Erstbegehung der Cerro Cachet Nordostwand durch Nicolas Hojac, Stephan Siegrist und Lukas Hinterberger

Dem Schweizer Expeditionsteam um Nicolas Hojac, Stephan Siegrist und Lukas Hinterberger gelingen Erstbegehungen in Patagonien. Unter anderem besteigen sie als erste die Nordostwand des Cerro Cachet über eine abwechslungsreiche und anspruchsvolle Mixed-Kletterroute mit einer Schwierigkeit von M7+.

Ein Erlebnisbericht von Lukas Hinterberger

Als ich Stephan Siegrist Mitte des letzten Jahres plötzlich am Telefon hatte und er mich fragte, ob ich im November Zeit habe und mit nach Patagonien auf eine Expedition komme, dachte ich, er würde mich verschaukeln. Stephan gilt schließlich als einer der erfahrensten Alpinisten weltweit und ist einer der bekanntesten Bergsteiger der Schweiz. Ein absoluter Patagonien- und Expeditions-Experte, und dieser Stephan fragte mich nun, ob ich mitkomme. Das klang wie ein Sechser im Lotto, ich schlug sofort ein. Patagonien stand auf meiner Bucket List eh ganz oben und ich hatte für den Herbst noch keine konkreten Reisepläne. Mein Kumpel Nico Hojac hatte mich als Kletterpartner wohl ins Spiel gebracht, die beiden kennen sich von ihrem gemeinsamen Ausrüster Mammut. Und Nico und ich waren zusammen im SAC-Expeditionskader, hatten schon einige Gipfel gemeinsam bestiegen und waren zusammen in China und Pakistan auf Expeditionen gewesen.

Stephan und Nico hatten im Vorwege viel recherchiert und es war klar, dass das nördliche Patagonien noch längst nicht so erschlossen ist wie der Meltingpot der globalen Kletterszene, die Gegend um El Chaltén – dem Ausgangspunkt für die berühmten Routen am Cerro Torre, Torre Egger, Cerro Standhardt oder Fitz Roy.

Am 3. November machten wir uns von Zürich aus auf nach Santiago de Chile, von dort ging es direkt weiter nach Balmaceda und nach Coyhiache. William Clark – ja er heißt wirklich so – ein langjähriger, argentinischer Freund und Expeditionspartner von Stef, erwartete uns und wir machten uns direkt daran, die komplette Ausrüstung zu checken. William hatte die in Patagonien deponierten Klettersachen, Zelte, Kocher, usw. von Steph dabei, trotzdem war noch einiges zu besorgen.

Ab in den Baumarkt

So war unsere erste Anlaufstation der Baumarkt von Coyhiache. Schon skurril – ich bin noch keine 24 Stunden in Chile, das erste Mal südlich des Äquators und was mache ich als erstes: Ich gehe mit drei Kumpels in den Baumarkt. Fürs Basecamp brauchten wir noch Planen, Draht, Sägen, Kochtöpfe, Brennspiritus und einiges mehr. Danach ging es weiter in den Supermarkt und bepackt mit drei vollen Einkaufswagen mit Nahrungsmitteln für unseren sechs Wochen Trip und 900 US-Dollar weniger in den Taschen, hatten wir dann so ziemlich alles, was wir brauchten.

Mit 500 Kilogram Ausrüstung ab in den Süden

Am nächsten Tag fuhr uns William mit seinem Pick-up nach Puerto Bertrand, 450 Kilometer südlich von Coyhiache. Fast 500 Kilogramm Ausrüstung auf der Ladefläche und fünf Leute in der Fahrerkabine zwangen den Wagen ganz schön in die Knie, aber er hielt durch. Puerto Bertrand empfing uns mit blauem Himmel, aber auch mit Sturmböen von 150 km/h, die das Wasser auf dem See zum fliegen brachten. An eine Überfahrt über den Lago Plomo, von wo aus der Trail Richtung Basecamp und Nef Gletscher los gehen sollte, war nicht zu denken. Wir mussten abwettern, wie es laut Tobias angeblich heißt. Tobi ist ein Freund von Steph, ein Journalist aus Hamburg, der mit Steph bereits in Kashmir unterwegs war. Er sollte uns ein paar Tage bis in Basecamp begleiten und nach ungefähr zwei Wochen wieder zurückfahren.

Fussmärsche durch Buschwerk und Sümpfe

Erst nach zwei Tagen konnten wir mit einem kleinen Boot von unseren Gauchos Hector und Don Ramon über den Lago Plomo zur Ranch schippern. Dort war der Startpunkt für unseren Trip ‚Into the Wild‘. Es folgte ein zweieinhalb tägiger Fußmarsch durch Buschwerk und Sümpfe, über einige Felsvorsprünge und entlang des Ufers des Rio Soler. Das Essen und die Ausrüstung hatten wir auf sechs Packpferde von Hector, Don Ramon und seinem Bruder Luis geladen, die das gesamte Material bis zum letzten Waldstück im Tal brachten. Dort errichteten wir unser Basecamp. Aus dem Totholz, Draht und einer festen Plane bauten wir eine kleine, offene Waldhütte – unsere Küche, Essplatz und Chillout-Lounge in einem.

Die ersten zwei Wochen mussten wir in unseren Zelten und im Camp ausharren – das patagonische Wetter zeigte sich von seiner divenhaften, regnerischen Seite. Mit Griffbrett-Sessions, Schachspielen, Lesen oder dem Errichten von kleinen Schutzwällen gegen das drohende Hochwasser aus dem nahen Fluß, vertrieben wir uns die Zeit. Aber eigentlich wollten wir nur eines: endlich Bergsteigen.

Als sich das Wetter für einen Tag besserte, ergriffen wir die Chance und machten uns auf den Weg. 20 Kilometer und fast 2500 Höhenmetern später standen wir auf dem Gipfel des 2799 Meter hohen Cerro Largo. Nach neun Stunden beschwerlichen Aufstiegs mit Skiern (die uns freundlicherweise Robert Jasper und sein Team in Chile überlassen hatten) über den Nef-Gletscher, erreichten wir den Gipfelpilz und es ging zum Abschluss durch fast senkrechtes Rime-Eis in der Dämmerung auf den Peak. Auf den letzten Metern überkam uns ein intensives Glücksgefühl, es war ein unbeschreiblicher Moment. Um uns herum das Inlandeis und in weiter Ferne schimmerte im Westen der Pazifik golden in der Abendsonne. Für Nico und mich war es der erste patagonische Gipfel – what a day.

„Auf den letzten Metern überkam uns ein intensives Glücksgefühl, es war ein unbeschreiblicher Moment.“

Unser Blick ging aber nicht nur gen Westen zum Pazifik, auf der anderen Seite stach uns die markante Nordostwand des Cerro Cachet ins Auge. Der rund 2600 Meter hohe Berg war seit der Erstbesteigung im Jahr 1971 durch neuseeländische Bergsteiger erst ein weiteres Mal erklommen worden, beide Mal über die recht einfache Rampe vom Inlandeis aus. Aber es gab noch keine Besteigung über die senkrechte Nordostwand – unsere Challenge für das nächste stabile Wetterfenster.

Todmüde, hungrig und trotzdem überglücklich

Doch so schön der Ausblick und die Glücksgefühle auf dem Gipfel auch waren, plötzlich macht es bei uns Klick – die beschwerliche Abfahrt stand uns noch bevor. Wir hatten nur Bergschuhe und mit diesen auf Skiern über den winderodierten, teils auf blanken Gletschereis zu fahren, war eine echte Tortur. Erst nach 16 Stunden Anstrengungen erreichten wir unser Basislager – todmüde, hungrig, aber auch überglücklich. Beim Mitternachtsgelage  am Lagerfeuer ist uns so richtig bewusst geworden, was wir geschafft hatten – und so gab es zur Feier des Tages zu den Nudeln mal eine Dose Thunfisch dazu.

Dass die Nordostwand des Cerro Cachet noch unbestiegen war, liess uns nicht mehr los. Ein paar Tage später gab es die Aussicht auf stabiles Wetter für mehrere Tage und wir starteten unsere Mission Cachet. Nach mehreren Stunden Fußmarsch über den Nef-Gletscher bis zum Wandfuss, mussten wir am zweiten Tag das schlechte Wetter im Zelt von unserem ABC aussitzen. Am dritten Tag ging es aber los: Unsere Route führte über eine vereiste Rampe hoch auf einen Rime-Eis gespickten Pass, wo wir nach einer kurzen Abseilstelle und einem Gegenaufstieg direkt unter die rund 600 Meter hohe Headwall gelangten. Eine senkrechte und wilde Eislinie markierte die logische Linie, doch nach einer gekletterten Seillänge mussten wir bereits nach links in den Felsen ausweichen. Die Sonne verursachte mehr Eisschlag als uns lieb war. Seillänge um Seillänge fanden wir jedoch einen kletterbaren und objektiv sicheren Weg durch sehr schönes und spannendes Mixedgelände. Die schwierigsten Längen – wir stuften sie mit M7+ ein  – konnten wir mit Friends und Normalhaken absichern. Doch einige Seillängen führten über dünne und steile Eisauflagen – die darunter liegenden Hohlräume erforderten ein solides Nervenkostüm.

Als erste über die Nordostwand auf dem Cerro Cachet

Nach zehn Stunden Kletterei durch die 600 Meter hohe Eis- und Felswand hatten wir schließlich die Gipfelwächte überwunden. Über dem Inlandeis lag ein dickes Nebelmeer, vor uns ein leichter Gipfelgrat. Es war kurz nach 18.00 Uhr, als wir endlich oben auf dem Hauptgipfel des Cerro Cachet standen und uns in die Arme fielen – zwar nicht als erste Seilschaft überhaupt, aber als erste, die über die Nordostwand den Gipfel erreichte.

Homaje an Julian Zanker und weitere Freunde

Steph legte eine kleine Puppe auf den Gipfel ab. Es war für seinen Kumpel und Kletterpartner Julian Zanker. Julian sollte eigentlich mit auf die Expedition nach Patagonien kommen, doch im Februar 2019 war er bei einem Sturz in der Eiger-Nordwand ums Leben gekommen. So war er aber in gewisser Weise mit auf den Cerro Cachet gestiegen, für Steph war es ein sehr emotionaler Moment. Und auch der Name für diese neue Route sollte an ihn erinnern: „Homenaje a los amigos perdidos“ haben wir sie getauft, was soviel bedeutet wie: „In Gedenken an verlorene Freunde“. Gemeint sind Ueli Steck (40), der im Jahr 2017 am Mount Everest tödlich verunglückte sowie der 28-jährige Österreicher David Lama, der bei einer Expedition in Kanada im Frühjahr 2019 bei einem Lawinenabgang ums Leben kam und eben Julian Zanker (28).

„Wir wurden eine Stunde lang regelrecht bombardiert.“

Abgesehen von einigen wilden Stieren, denen wir in der Pampa ausweichen mussten, wurde es während unsere Expedition nur einmal kritisch – ausgerechnet beim Abstieg über jene Route, die wir nach unseren verstorbenen Freunden benannt hatten. Die Sonne hatte tagsüber die Felsen rund 300 Meter oberhalb der Einstiegsrampe so stark erwärmt, dass sich in der Dunkelheit Rime-Eis in der Größe von Autos löste und wir eine Stunde lang regelrecht bombardiert wurden. Ein ziemlich unangenehmer Kontrollverlust, denn es gab in der Rampe keine Ausweichmöglichkeit – aber das Glück war auf unserer Seite. Weniger Glück hatten wir allerdings nach dem langen Rückweg zum Basecamp. Unsere Gedanken kreisten um ein Stück chilenisches Rindfleisch, das uns Gaucho Hector geschenkte hatte. Wir hatten es uns als Belohnung für einen erfolgreichen Gipfel aufgehoben. Die Zubereitung des Entrecôte war auf dem Abstieg Gesprächsthema Nummer 1. Das Fleisch hatte wir gekühlt in einem Wassersack im Fluß gelagert. Der Grill im Basecamp war schon startklar, als wir das ganze Ausmaß der Katastrophe bemerkten: Der Wassersack hatte ein Loch, das Fleisch war komplett vergammelt und stank vor sich hin. Es gab nur einen Ausweg – „Liquid-Chicken“ – unsere letzten Biere halfen, das entgangene Asado zu vergessen.

Fakten zur Expedition

Routenverlauf von “Homenaje a los amigos perdidos“, Cerrot Cachet, Northern Patagonia, 3.12.2020. Stephan Siegrist, Lukas Hinterberger, Nicolas Hojac

Zeitraum: 3.11. bis 15.12.2019

Teilnehmer: Stephan Siegrist (48), Nicolas Hojac (27), Lukas Hinterberger (26), Tobias Hatje (55)

Cerro Cachet Nordostwand: ca. 2.700  m, Schwierigkeit M7+, 1500 Hm  ab Nef Gletscher abwechslungsreiche, anspruchsvolle Mix-Kletterroute (Erstbegehung)

Cerro Largo: 2.799 m, 23 km Anstieg über den Nef Gletscher, 2500 Hm ab BC mit Eiskletterpassage auf den Eispilz. 2. Besteigung

Cerro Palomar: ca.1800 m anspruchsvoller Trekkingberg / Aussichtsberg  (Erstbesteigung)

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