Wie das Bouldermekka Tessin entstand: Richi Signer erinnert sich

Richi Signer, geboren ’58 in der Schweiz, ist ein Sportkletterer und Boulderer der ersten Stunde. Auch heute noch, im Ruhestand, verbringt er die meiste Zeit seiner Freizeit mit Klettern oder der Suche nach neuen Bouldern. Er war einer der ersten Kletterer, der das unendliche Boulderpotential im Tessin entdeckte, er liebt die Einfachheit dieser Aktivität.

Bericht von Richi Signer

1982/83 forderte mich ein bohrfreudiger von Café-Latte und Vino-Rosso begeisterter Kletterkumpel auf, ihm in die Sonnenstube der Schweiz zu folgen. Das Neutourenpotenzial sei enorm und eine helfende Hand beim Bohren (von Hand!) sei immer willkommen.

Bei einer Inspektion einer Wand oberhalb von Cresciano stachen mir die unzähligen Blöcke mit feinster Oberflächen-Textur ins Auge.

Richi Signer, Schweizer Boulderer erster Stunde, im Tessin. Bild: Black Diamond
Richi Signer, Schweizer Boulderer erster Stunde, im Tessin. Bild: Black Diamond

Meine Herzfrequenz erhöhte sich augenblicklich, meine Augen galten nur noch dem enormen Bouldermöglichkeiten. Schon wenige Wochen später tauchte ich endgültig in diesen einzig durch ein paar Ziegen gestörten Block-Kosmos ein.

Keine Namen, keine Tickmarks, keine Pfeile wiesen den Weg, einfach eine grosse persönliche Spielwiese. Apropos Namen, Bewertungen: Namen manchmal und Bewertungen gab’s nur zwei, entweder kommst du hoch oder eben halt nicht.

Den Wald von Cresciano zu durchstreifen, nur mit einem paar Kletterfinken, einem Lappen, einem Chalkbag ausgerüstet… was gab es Schöneres!

Nur 2 Jahre später, wieder durch einen Zufall, die Entdeckung von Chironico, das nächste Block-Universum. Gleich beim ersten Boulder, am heutigen „Borderline“ Block, brach mir ein Griff aus und ich landete etwas unsanft am Boden. In einer Zeit ohne Crashpad (sie sollten erst Ende der Neunziger zum Standard werden) und ohne Spotter, eine eher unangenehme Angelegenheit.

Die Erfahrung mit Griffausbruch und des vielfach eher ungünstige Sturzraumes schränkten dann meine Besuche doch auf einige wenige Male ein, galt doch meine Präferenz nach wie vor eindeutig Cresciano. Guter Absprung und im Winter mehr Sonne, denn der Winter war eindeutig meine Hauptbesuchszeit. Ein Parkour mit rund fünfzig Boulder durch das „ganze“ Gebiet gehört auch heute, nach vierzig Jahren, zu meinen liebsten Zielen.

Gegen Ende der achtziger Jahre überraschten mich hier in Cresciano fremde Magnesiaspuren, also musste da noch jemand anderes unterwegs sein.

Anfang der Neunziger weilte Fred Nicole mit Freunden und Locals in Cresciano unter anderm auch zum Sportklettern. Auch ihm fiel das Boulderpotenziall und das gute Absprunggelände sofort ins Auge. Im Nachbargebiet Osogna gelang ihm 1994 mit „Rêve de Mario“ der erste 8a Boulder im Tessin. Mit der Namensgebung löste sich für mich auch das Rätsel um die geheimnisvollen Chalkspuren. Mario Ferrari war anscheinend auch schon in den achtziger Jahren vom Boulder-Virus gepackt. So eröffnete er bereits 1985 mit der „Traverse di Mario“ einen 7a+ Quergang in Osogna.

1996 kehrte ich mit Andreas Luisier wieder mal nach Chironico zurück und erkundeten auch den unteren Teil, heute „Rah Plats Plats“. Andreas markierte einige „neue“ Boulder mit kleinen Pfeilen, wie er es aus dem Basler Jura gewohnt war. Diese Pfeile erregten ein paar Jahre später die Aufmerksamkeit der Gebrüder Tresch und über meine Bekanntschaft mit Fred Nicole schloss sich der Kreis wieder, war doch die Boulder-Szene relativ klein.

Man wusste voneinander, lief sich immer wieder über den Weg und hörte ab und zu dies und jenes. Die erste Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum fiel auf das Jahr 2000 (Rotpunkt Magazin 3/2000) bzw. im französischsprachigen 1999 (Rock n`Wall).

Spätestens mit diesen Veröffentlichungen, der internationalen Präsenz und Bekanntheit von Fred Nicole und dem Aufkommen von Crashpads kannte die Erschliessung, unter internationaler Beteiligung ab dem Jahr 2000 kein Halten mehr.

Weitere Top Boulder-Destinationen im Tessin, wie Brione, Calanca und Bavona folgten und das Potential scheint nach wie vor unerschöpflich.

Leider sind, wie in vielen Gebieten, auch die Konflikte „Alltag“ geworden. Bouldern ist weltweit, auch dank der Hallen, zum Breitensport geworden und in vielen Gebieten ist es mit der Ruhe vorbei. So schön es ist, wenn Leute in der freien Natur ihrem Lieblingssport nachgehen, so problematisch ist das Verhalten einzelner. Mangelnder Respekt gegenüber der Natur, den Boulderns und der lokalen Bevölkerung muss nicht sein.

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Credits: Titelbild Alex Fuchs

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