Didier Berthod: Vom Fels an den Altar

Didier Berthod war Anfang der Nullerjahre eine Leitfigur des Kletterns, zog sich dann aber in einer Bruderschaft als Mönch zurück. Jetzt, nach über 12 Jahren im Kloster, machte er eine erneute Kehrtwende: Didi is back, zurück am Fels! In der nächsten Episode der Newssendung BETA sprechen wir mit Didier Berthod über sein Comeback. An dieser Stelle werfen wir aber einen Blick zurück: 2016 machte sich der Journalist Olivier Christe auf die Suche nach Didier Berthod, dem Mönch.

Ein Gastbeitrag von Olivier Christe

Meine Suche beginnt in Bramois, einem Walliser Dorf. Auf den Briefkästen reiht sich «Berthod» an «Berthod». Unschlüssig suche ich nach einem Hinweis, als eine Frau auf mich zukommt. Ich frage nach Didier. Sie sieht mich ungläubig an: «Bist du sicher?» – «Ja, den Kletterer, den Mönch.» Ihre Züge entspannen sich. «Der wohnt nicht hier. Schon lange nicht mehr. Aber komm rein.»

Die Berthods sind eine grosse Familie. Simon, mit ein paar Monaten der Jüngste und Sohn von Didiers Bruder Cyrille, wacht gerade auf. Sie setzt ihn neben mich an den Küchentisch und sagt: «Ich erinnere mich noch gut, als Didier 2006 aus Kanada anrief: Mama, heute ist ein wunderbarer Tag. Mein Knie ist kaputt. Es hält das Klettern nicht mehr aus. Endlich kann ich damit aufhören.»

Mein Knie ist kaputt. Endlich kann ich mit dem Klettern aufhören.

Didier Berthod

2006 in Kanada: Ein feiner Riss zieht sich durch die überhängende Wand. Breit genug, dass der Mann seine Finger in ihn klemmen und sich so halten kann. Sein Atem ist laut zu hören. In Stössen bläst er Luft aus. Dann ruft ihm einer von unten zu: «O. k., Didi, come on.» Die Kamera geht näher. Der Kletterer legt einen Friend in den Riss und hängt das Seil ein. Der Atem übernimmt wieder. «Come on», ruft einer von unten erneut. Didi stöhnt. Und fällt.

Der Film «First Ascent» zeigt Didier Berthod, damals 25, im bis dahin ungekletterten Cobra Crack (8b+) in Kanada. Über Monate versucht er die Route zu knacken, doch fällt er an der Schlüsselstelle immer wieder ins Seil. Die Knieverletzung beendet dieses letzte grosse Kletterprojekt des Walliser Ausnahmekönners schliesslich vorzeitig. Am Ende des Films sagt Berthod an Krücken in die Kamera: «Klettern führte mich zu diesem Leben: Reisen, wenig Geld, einfache Dinge. Es gab mir das Gefühl, gelebt zu haben.» Und dann folgt die Information, dass sich Didier nun in einem Kloster in der Schweiz erhole.

Klettern führte mich zu diesem Leben: Reisen, wenig Geld, einfache Dinge. Es gab mir das Gefühl, gelebt zu haben.

Dider Berthod
Das war seine Spezialität: Schwierigstes Rissklettern im Trad-Stil – frei von Bohrhaken. Hier in Greenspit (8b+) im italienischen Valle dell’Orco. Foto: Fred Moix

Unmittelbar nach seiner Rückkehr tritt Berthod in eine franziskanische Bruderschaft ein. Doch was der Film als Ort der Genesung bis zur Rückkehr an die Felsen suggeriert, ist eine Wende in Berthods Leben. Er scheint den Blick von den Felsen gelöst und weiter gegen den Himmel zu Gott gerichtet zu haben. Seither sind zehn Jahre vergangen. Sein Knie hat sich erholt, doch geklettert ist er nicht mehr. Die Suche nach Gott füllt jetzt seine Tage aus. Was hat er gefunden?

«Ich wollte Grosses erleben»

Zurück in Bramois. Zum Mittagessen kommt die gesamte Familie zusammen. Die Eltern sprechen ein kurzes Gebet. Der Lachs schmeckt ausgezeichnet. Vater Berthod führt mich danach durch den Weinkeller. Mit zwei Flaschen Wein steige ich zu Didiers Bruder Cyrille ins Auto, der nach Bern fährt. Wie das Aufwachsen mit Didier war, will ich wissen. Wir kehren nur langsam in die Vergangenheit zurück. Sitten, Martigny.

Schliesslich helfen die jugendlichen Kletterreisen: «Einmal ging uns das Geld aus. Didier sollte Essen kaufen. Er kehrte stattdessen mit einem Pack M & Ms und der Erklärung zurück, dass eine alte Frau das Geld nötiger gehabt habe.» In Cyrilles Blick ist die Empörung von damals zu sehen. «Schau mich an. Ich brauche Essen.» Der heutige Bergführer macht auf seinen mächtigen Körper aufmerksam.

Es war die Zeit vor den Handys. Wir waren frei. Manchmal mussten wir in den Reben helfen. Sonst hatten wir kaum Verpflichtungen.

Cyrille Berthod

«Didier war talentierter, schnell besser, nach zwei Jahren kletterte er 8b. Wir waren in diesen Anfangsjahren viel gemeinsam unterwegs. Zuerst im Wallis. Dann in die umliegenden Länder. Es war die Zeit vor den Handys. Wir waren frei. Manchmal mussten wir in den Reben helfen. Sonst hatten wir kaum Verpflichtungen.»

Die Freiheit von damals blieb an ihm hängen. Er wirkt unbeschwert. Und Didier? «Heute frage ich mich, was damals in ihm vorging. Er spricht nun immer davon, dass er traurig war. Er spricht von diesem Cobra Crack. Und dann sagt er, dass er bei Gott nun endlich seine Ruhe gefunden habe. Aber frag ihn selbst.» Aigle, Vevey, Bulle. Cyrille fährt mich vor die Bruderschaft bei Freiburg. Leider müsse er gleich weiter.

Die Bruderschaft liegt idyllisch auf einer Anhöhe und ist einer christlich-anthropologischen Schule angegliedert.

Didier Berthod

Der 35-jährige Walliser gehörte bis 2006 zur weltweiten Kletterelite, entschied sich dann aber für ein Leben in einer franziskanischen Bruderschaft. Heute klettert er nicht mehr.

Aufgrund der Semesterpause ist das Haus aber verwaist. Nur die Gärtnerin ist da, sie bietet mir einen Kaffee an. Alle seien auf einem gemeinsamen Spaziergang. Plötzlich höre ich von draussen ein Lachen. Die Gärtnerin schildert Didier gerade meine Anreise über Bramois. Er blickt auf den Wein. «War Cyrille da?» Wir begrüssen uns.

Vom kräftigen Körper ist nicht viel übrig.

Der Mann ist klein, schmächtig. Die Hände sind fein. Vor allem das Lachen erinnert an den Kletterer aus «First Ascent». Vom kräftigen Körper ist nicht viel übrig. Darüber hängt eine braune Kutte und ein weisses Kreuz. In einem der leeren Schulzimmer frage ich ihn, weshalb er traurig war. Didier braucht den Anlauf in die Vergangenheit nicht. «In meinem Kinderzimmer hingen Bilder von den Kletterstars jener Zeit: Chris Sharma, Alex Huber…Kennst du René Girard?» Ich verneine. «Ein französischer Anthropologe. Als ich ihn las, wurde mir klar, dass ich damals vor allem imitiert hatte. Mir fehlte eine Identität.»

Ich bin erstaunt. Das soll die Trauer gewesen sein: die Heldenschwärmerei eines 14-Jährigen? Didier verneint: «Sie war damit aber bereits angelegt. Ich wollte etwas Grosses erleben, und dafür, so meine damalige Schlussfolgerung, musste ich jemand Grosses werden. Das Klettern brachte mich dahin. Es führte mich an Orte, an denen ich mich als Teil eines Ganzen fühlte. Es gab mir eine Identität.»

Nicht nur seine sportlichen Leistungen, sondern auch seine ethischen Überzeugungen machten Didier Berthod zur Leitfigur.

Claude Remy, selber ein Kletterpionier, schreibt von der «Lokomotive Berthod, die zum Anführer einer ganzen Klettergeneration wurde». Nicht nur seine sportlichen Leistungen, sondern auch seine ethischen Überzeugungen machten ihn zur Leitfigur. Er kletterte schwierigste Routen fast ausschliesslich mit Friends und Keilen gesichert, was ihn zum Vorreiter eines aufkommenden Ideals machte: keine Spuren hinterlassen und doch maximal schwer klettern.

Liebe zur Welt und zum Leben

Als er jedoch glaubte, endlich eine Identität entwickelt zu haben, stellte sich ein sonderbares Gefühl ein: «Ich sah mich zum ersten Mal in einem Magazin und erschrak.» Er war dabei, das Bild zu imitieren, das er dort von sich sah. «Klettern wurde immer mehr zur Sucht. Beim Cobra Crack bin ich an meine Grenzen gelangt. Es ging nur noch darum, besser zu werden.» Sein Leben drehte sich nur noch um diese 20 Meter Fels. «Mein Knie hat mich dann erlöst, und ich wusste, dass ich nicht mehr klettern würde, nicht mehr in diese Trauer zurückkehre. Das Leben in der Bruderschaft kennt diese Trauer nicht.»

Klettern wurde immer mehr zur Sucht. Beim Cobra Crack bin ich an meine Grenzen gelangt. Es ging nur noch darum, besser zu werden.

Didier Berthod

Doch was ist es dann? «Vor allem Rückkehr zur Liebe, die ich in den letzten Jahren als Kletterer verloren habe. Liebe zur Welt und zum Leben. Und es ist die Imitation ohne das Bedürfnis, besser als der oder die Imitierte zu werden.»

Diesem Ziel geht Didier hier nach: täglich vier Stunden Gebet, Theologiestudium und ein enges Zusammenleben mit seinen Brüdern und Schwestern. Auf zwischenmenschliche Liebesbeziehungen verzichtet er seit seinem Eintritt hingegen vollständig, und der letzte Besuch in Bramois liegt ebenso zehn Jahre zurück. Weshalb? «Manchmal überkommt mich Schwermut, wenn ich an meinen kleinen Neffen Simon denke. Wenn ich mir vorstelle, wie er am vollen Küchentisch in die Runde lacht. Doch ich gebe das Leben hier anders weiter.

Vom kräftigen Körper ist wenig übrig. Darüber eine braune Kutte und ein weisses Kreuz.

Ich bin Ansprechperson für die männlichen Jugendlichen der Schule. Ich versuche, ihnen aus Depressionen und Süchten zu helfen, indem ich meine eigene Erfahrung aus der Kletterzeit nutze. Es geht um eine konstante Freude am Leben.» Didier geht in sein Zimmer und holt ein Buch hervor: «Le soleil se lève sur Assise» von Éloi Leclerc. «Ich habe es mit 16 gelesen, mit 20, mit 25 und zuletzt vor einigen Tagen.» Er fährt mich auf seinem Roller in die Stadt, wo er eine Vorlesung besucht. Ich steige in den Zug und in die Welt von Éloi Leclerc.

Der Autor erzählt von seiner Erfahrung in einem deutschen Vernichtungslager. Er stellt sich die Frage, ob das Böse bereits im Menschen angelegt ist. Die Antwort findet er bei Franz von Assisi, der alle Wesen und Erscheinungen, nicht nur die Menschen wie im späteren Humanismus, auf eine Ebene stellt und so verhindert, dass jemand oder etwas degradiert und als Folge legitim gepeinigt, verletzt oder vernichtet werden kann.

Materiellen Besitz reduziert er auf ein absolutes Minimum. Es ist eine utopische Liebeshymne. Christliche Flowerpower, gemischt mit kommunistischen Werten. Trotz der Unzulänglichkeiten lässt es nicht kalt. Zu dringlich ist der Wunsch nach gegenseitigem Respekt. Und Didiers Leben trägt klar diese Handschrift: die Geschichte mit den M & Ms, der Versuch, keine Spuren zu hinterlassen, die Liebe zur Natur und die grosse Dankbarkeit.

Didier der Exorzist?

Eine Woche später treffe ich Didier erneut und spreche ihn auf die utopischen Züge des Buchs an: «Anders als Franz von Assisi oder Leclerc gehe ich nicht von einem Paradies auf Erden aus», erwidert Didier. Stattdessen baue er auf das Jenseits und begnüge sich damit, hier gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen: «Es ist alles, was wir tun können. Ich würde nicht all diese Anstrengungen auf mich nehmen, um ewig hier zu leben.»

In wenigen Monaten endet sein Studium. Er wird sich weiter auf das Austreiben von Dämonen spezialisieren. Exorzismus. Bei mir melden sich alle Warnsignale. Er versucht zu beruhigen und erklärt den Ablauf: «Gemeinsames Beten mit den Betroffenen über Monate oder Jahre, um die Dämonen zu vertreiben.» Ich versuche zu übersetzen. Handelt es sich um psychische Erkrankungen? Ist das gemeinsame Beten eine Form von Meditation? Die Bilder von Wässerungen und Schreikrämpfen verschwinden zwar wieder, doch irgendwo zwischen Paradies und Dämonen habe ich Didier verloren.

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