Im Rausch der Geschwindigkeit zu Rekordzeiten. Wieso macht man so etwas? Wie hoch sind die Risiken โ und wie lassen sie sich begrenzen? Christian Penning hat mit vier Bergsportlern รผber das Thema Speed gesprochen.
Von Christian Penning – Erstmals erschienen in der Fachzeitschrift bergundsteigen
Daniel Arnold, 36 Jahre
- Extrembergsteiger, Bergfรผhrer
- Wohnhaft in Bรผrglen (Schweiz)
- Free-Solo-Speed Groรe Zinne, Nordwand: 46:30 min
- Grandes Jorasses, Nordwand: 2:04 h
- Eiger-Nordwand: 2:28 h
- Matterhorn-Nordwand: 1:46 h
โRational gesehen, sind Speed-Besteigungen vรถllig sinnfrei โ so wie das Klettern รผberhaupt. Wir brรคuchten beides nicht zum Leben. Doch der Mensch ist auch ein Homo Ludens. Ein Wesen, das seine Fรคhigkeiten รผber das Spiel entwickelt. Speed-Projekte sind eine Spielart des Bergsteigens.
Mir geht es dabei vor allem darum, die Ablรคufe des traditionellen Bergsteigens zu Automatismen zu optimieren. Fรผr Auรenstehende mag es halsbrecherisch wirken, in zweieinhalb Stunden durch die Eiger-Nordwand zu sprinten. Tatsรคchlich kommt es auf die Relation von objektivem Schwierigkeitsgrad auf der einen Seite und persรถnlichen Faktoren wie Erfahrung, Kรถnnen, Fitness und Vorbereitung auf der anderen Seite an.
Um Speed-Projekte sicher zu meistern, musst du technisch so gut sein, dass die Route fรผr dich relativ einfach ist. Je nach technischer Schwierigkeit, Ausgesetztheit der Route, physischer und psychischer Verfassung wird die Geschwindigkeit ab einem gewissen Punkt dennoch zum Risiko. An diesem Punkt aber, wรผrde ich behaupten, war ich noch nie.
Beim Speed-Klettern ist eine absolut realistische Selbsteinschรคtzung unverzichtbar. Wรผrde ich mir etwas vormachen, wรคre ich mรถglicherweise bald tot. Im Grunde bin ich eher selten extrem unterwegs und ich versuche auch nicht, meine eigenen Speed-Rekorde zu brechen. Denn je hรคufiger ich ungesichert in exponierten Routen klettere, desto grรถรer wird die statistische Wahrscheinlichkeit, dass doch etwas schiefgeht.
Schlรผsselstellen wie bei meiner Free-Solo-Speed-Begehung an der Groรen Zinne gehe ich oft monatelang wie Turnรผbungen x-fach im Kopf durch. Vor der Tour checke ich, ob die Bedingungen 100 Prozent passen. Ich lasse mir bis zum letzten Moment die Option eines โNeinโ offen. Auch wenn ich damit Fotografen oder Sponsoren enttรคuschen wรผrde.
Ein gewisses Restrisiko bleibt dennoch. Doch ich glaube, dass es sich fรผr Trรคume und dieses Gefรผhl vรถlliger Freiheit lohnt, ein gewisses Risiko einzugehen. Es muss ja nicht alles im Leben einen Sinn ergeben.โ
Mayan Smith-Gobat, 40 Jahre
- Weltklasse-Kletterin, Neuseeland/Plankenfels (Franken)
- Frauen-Speed-Rekord โThe Noseโ El Capitan (mit Libby Sauter): 4:43 h
- Mixed-Speed-Rekord โThe Noseโ El Capitan (mit Sean Leary): 3:29 h
- Link-up Half Dome – Nose (mit Chantel Astorga): 20:09 h
โEs war nur ein kurzer Augenblick beim Training mit meinem Kletterpartner Sean Leary fรผr den Mixed-Speed-Rekord an der 1000- Meter-Wand โThe Noseโ am El Capitan. Wir kletterten simultan am Seil โ mit nur wenigen Sicherungen zwischen uns. Sean rutschte ab, konnte sich aber wieder fangen. Wรคre ihm das nicht geglรผckt, wรคre es das wohl gewesen. Fรผr ihn, aber auch fรผr mich. Ich hรคtte ihn frei am Seil nicht halten kรถnnen. Ich war mir der mรถglichen Konsequenzen bewusst. Aber ich hatte Vertrauen in meine Kletterpartner, und es war mir dieses Risiko wert. Damals jedenfalls. Ich hielt den Rahmen, in dem ich mich bewegte, fรผr relativ sicher. Heute sehe ich das anders: Eigentlich war da gar nichts sicher.
Es gibt nur wenige Frauen, die im alpinen Speed-Stil klettern. Frauen sind in unserer Gesellschaft mehr auf Vorsicht sozialisiert: als fรผrsorgende und achtsame Mรผtter. Das steckt tiefer in uns drin, als wir wahrnehmen wollen. Ich war da wohl eine Ausnahme. Wieso? Ich war zu neugierig, wollte wenigstens annรคhernd wissen, wie sich Rekorde eines Alex Honnold oder Dean Potter anfรผhlen. Auch wenn ich von deren Zeiten weit entfernt war.
Und, ja, ich wollte auch meinen Selbstdarstellungstrieb befriedigen. Ich war als Kind sehr scheu, hatte wenig Selbstvertrauen. Durch meine Erfolge im Klettern habe ich innere Stรคrke und das Gefรผhl gewonnen, etwas โwertโ zu sein. Nach dem Frauen-Speed-Rekord 2015 wusste ich: Es geht noch schneller. Ich war, wie viele andere Kletterer auch, eine Getriebene. Mittlerweile habe ich mich Schritt fรผr Schritt vom Extremklettern verabschiedet. Der Tod mehrerer Kletterfreunde hat mir gezeigt: Ich gaukle mir nur vor, alles im Griff zu haben. Meine Ambitionen zurรผckzufahren war und ist eine Herausforderung.
Ich versuche, mit weniger anspruchsvollen Kletterprojekten Spaร zu haben. Dabei helfen mir neue Ziele. Die vergangenen Jahre habe ich mich mit der gleichen Energie wie frรผher beim Klettern einer zweiten Leidenschaft gewidmet. Ich habe einen Reiterhof aufgebaut. Rรผckblickend bleiben meine Speed-Jahre wunderbare Erfahrungen, ich habe viel gelernt. Aber aus heutiger Sicht will ich so etwas nicht mehr machen, weil mir andere Dinge wichtiger sind.โ
Andreas Steindl, 31 Jahre
- Weltklasse-Skibergsteiger und -Trailrunner, Bergfรผhrer, Zermatt (Schweiz)
- Lago Maggiore โ Dufourspitze, 98 km/4795 hm: 8:10 h
- Zermatt โ Matterhorn โ Zermatt: 3:59:52 h
- Vier Matterhorn-Grate (mit Francois Cazzanelli): 16:04 h
- Spaghetti-Tour (mit Ueli Steck), 17 Viertausender zwischen Monte-Rosa-Hรผtte und Kleines Matterhorn: 14:35 h
โNatรผrlich kann es bei Speed-Projekten im exponierten Gelรคnde zu Unglรผcken kommen. Natรผrlich kann man Sinn und Vorbildfunktion solcher Aktionen hinterfragen. Genauso wie man es in Frage stellen kann, mit hรถllisch schnellen Autos im Kreis um die Wette zu fahren. Doch ich sehe Speed-Projekte auch als klare, logische Entwicklung des Alpinismus.
Alle relevanten Gipfel und die meisten sinnvollen Routen im Alpenraum sind bestiegen. Der Mensch bleibt dennoch ein Entdecker. Mit moderner, leichter Ausrรผstung kรถnnen wir viel schneller unterwegs sein. So entstehen neue persรถnliche Trรคume und Ziele. Ich will mich auch aus sportlicher Sicht weiterentwickeln. Als Bergfรผhrer bringt mich das bisweilen in eine Zwickmรผhle. Auf der einen Seite die Verantwortung und Vorbildfunktion. Auf der anderen die sportlich-athletische Herausforderung, die mich reizt.
Unfรคlle sind in der Regel auf Leichtsinn oder Fehleinschรคtzungen zurรผckzufรผhren. Basis muss also eine realistische Einschรคtzung des eigenen Kรถnnens sein. Ich muss genau wissen, wo die Grenze ist, bis zu der ich konzentriert bleiben kann. Hinter Speed-Rekorden steckt eine riesen Vorbereitung โ Jahre, Jahrzehnte. Am Matterhorn war ich schon an die 80-mal, ich kenne jeden Tritt, weiร jeden Stein, der hรคlt. Das ist รผberlebenswichtig: Beim Abstieg muss ich in Millisekunden entscheiden, wie ich den Fuร richtig setze.
Natรผrlich bin ich als Bergfรผhrer mit Gรคsten vorsichtiger und langsamer unterwegs. Aber ich bekomme auch von meinen Kunden immer mehr Anfragen fรผr lange Touren, bei denen man sehr zรผgig unterwegs sein muss. Die Leute werden immer fitter. Der klassische Alpinismus reicht vielen heute nicht mehr. Warum auch? Sollen wir wieder mit Nagelschuhen auf die Berge steigen? Sich neue Herausforderungen zu suchen, liegt eben in der Natur des Menschen. Dabei wird es kรผnftig auch bei Rekordversuchen immer schwieriger werden, noch einen draufzulegen โ und ab einem gewissen Punkt auch riskanter.โ
Toni Palzer, 27 Jahre
- Weltklasse-Skibergsteiger und -Trailrunner, Ramsau bei Berchtesgaden (Deutschland)
- Watzmannรผberschreitung (2300 hm/23 km): 2:47 h
- Spitzenplรคtze bei alpinen Berglaufrennen wie Groรglockner Berglauf, Drei Zinnen Alpine Run
- Weltspitze Skibergsteigen, Mitglied Deutsche Nationalmannschaf
Bild Lorenz Richard / Red Bull Content Pool
โErfahrung und Vorbereitung sind der Schlรผssel, um nicht nur schnell, sondern gleichzeitig auch mรถglichst sicher unterwegs zu sein. Meiner Meinung nach wirkt das Risiko fรผr Auรenstehende grรถรer, als es tatsรคchlich ist. Die Chance, am Watzmann in ein Gewitter zu kommen, ist bei einem dreistรผndigen Lauf am Morgen deutlich geringer, als wenn ich ein oder zwei volle Tage unterwegs bin. Entsprechend kann ich dann auch meine Ausrรผstung minimieren โ aber nur dann. Ein Restrisiko bleibt natรผrlich trotzdem. Denn wir spielen hier ja nicht Golf oder Tennis.
Im Bergsport mรผssen wir uns auch mit dem mรถglichen Tod auseinandersetzen. Um ihm aus dem Weg zu gehen, ist es wichtig, immer fokussiert zu bleiben. Das fรคllt mir bei hรถherem Tempo in anspruchsvollem Terrain sogar leichter. Da bin ich in einem Flow der Aufmerksamkeit. Wenn ich nur locker dahinschlendere, bin ich weniger konzentriert. Man sollte also weder รผber- noch unterfordert sein. Schlรผsselzonen sind exponierte und steile Passagen. Die verzeihen gerade beim schnellen Abstieg keinen Fehler. Deshalb lรคuft bei mir im Kopf simultan immer ein Plan B mit: Was mache ich, wenn ich ausrutsche? Wo kann ich einen Sturz noch abfangen? Dabei ist Angst ein wichtiger Indikator. Wรผrde ich sie ausblenden, wรคre das schlecht fรผr meine Lebenserwartung.
Meine innere Stimme ist ein wichtiges Signal fรผr รผberlegtes Handeln โ und sei es, dass sie mir rรคt, umzukehren oder aufzugeben. Dass uns traditionelle Alpinisten fรผr Speed-Projekte immer wieder kritisieren, ist legitim. Aber ich denke, auch solche Vorhaben gehรถren zur Geschichte des Alpinismus. Ob wir damit schlechte Vorbilder sind? Ich stรผrze mich doch auch nicht als durchschnittlicher Skifahrer mit 150 km/h eine vereiste Abfahrtspiste wie die โStreifโ hinunter.
Verantwortung fรผr sich selbst und andere gehรถren eben genauso dazu wie eine gesunde Selbsteinschรคtzung. Ich persรถnlich brauchโ nicht jeden Tag volles Risiko. Mich einfach nur am Berg bewegen zu kรถnnen, ist schon Glรผck genug.โย
รber die Zeitschrift bergundsteigen
Bergundsteigen ist eine internationale Zeitschrift fรผr Sicherheit und Risiko im Bergsport und beleuchtet die Themen Ausrรผstung, Bergrettung, Seiltechnik, Unfall- und Lawinenkunde. Herausgegeben wird bergundsteigen von den Alpenvereinen รsterreichs (รAV), Deutschlands (DAV), Sรผdtirols (AVS) und der Schweiz (SAC).
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Credits: Dieser Artikel erschien erstmals in der Fachzeitschrift bergundsteigen.