Eisklettern Profi-Tipps: Eisverhältnisse einschätzen und vor Ort beurteilen

Mit sinkenden Temperaturen steigt die Vorfreude aufs Eis- und Mixedklettern. Passend zum bevorstehenden Saisonauftakt lancieren wir eine Eis-Serie mit Profi-Tipps von Peter von Känel. Im ersten Artikel erklärt der Bergführer und Buchautor, wie man die Eisverhältnisse besser einzuschätzen lernt.

Ein Beitrag von Peter von Känel – präsentiert von Petzl und Bächli Bergsport

«Was macht ihr am Wochenende?» «Wir gehen Eisklettern.» «Huch, Eisklettern? Ist das nicht ultragefährlich? Das Eis ist doch völlig unberechenbar und kann jederzeit runterfallen.» Diese Reaktion ist typisch für Leute, die Eisklettern nur vom Hörensagen und von Bildern kennen. Dabei gibt es wichtige Indikatoren, die dabei helfen, Eisverhältnisse verlässlich beurteilen zu können.

Das lernst du in diesem Artikel:

Säulen reagieren besonders empfindlich auf Temperaturstürze. Das Klettern von filigranen Sälen ist riskant.
Säulen reagieren besonders empfindlich auf Temperaturstürze. Das Klettern filigraner Säulen ist riskant.

Wissen, Erfahrung & Ausbildung

Aber wie verhält es sich nun mit dem «unberechenbaren Eis»? Lohnt es sich überhaupt, zum Eisklettern früh aufzustehen und einen womöglich anstrengenden Zustieg auf sich zu nehmen? Und wie kann ich am Einstieg und während des Kletterns beurteilen, wie gut das Eis mit dem Fels verbunden ist? Wenn man das Wissen hat, um diese Fragen zu beantworten, steigert das neben der Freude am Klettern auch die Sicherheit.

«Gerade beim Eis- und Mixedklettern lässt sich das Risiko verhältnismässig gut kontrollieren, denn mit ausreichend Wissen und Erfahrung lassen sich fast alle Gefahren erkennen.»

Peter von Känel

Während einer Tour hat man ausserdem praktisch immer genug Zeit, um die aktuelle Situation zu beobachten und angemessen zu reagieren. Eine gute Ausbildung und eine dem eigenen Können angepassten Herangehensweise erlaubt es auch Nicht-Profis, das Risiko beim Eis- und Mixedklettern in einem akzeptablen Rahmen halten.

Route N.I.N.: In extremen Eistouren lässt sich die Verbindung zwischen Fels und Eis oft sehr gut beurteilen.
Route N.I.N.: In extremen Eistouren lässt sich die Verbindung zwischen Fels und Eis oft sehr gut beurteilen.

Wichtig für Tourenplanung: Temperatur an der Eisoberfläche

Zum Glück für uns Eiskletterer ist die Temperatur an der Eisoberfläche bei günstigen Bedingungen deutlich tiefer als die Lufttemperatur. Der Haupttreiber dieser Abkühlung ist die Abstrahlung. Diese wird durch tiefe Luftfeuchtigkeit, wolkenlosen Himmel, grossen Öffnungswinkel zum Himmel und möglichst wenig Wind begünstigt.

«Bei Temperaturschwankungen verhalten sich die Eisstabilität und der Kletterspass in einigen Situationen deutlich unterschiedlich.»

Peter von Känel

Für die Tourenplanung ist also nicht die prognostizierte Lufttemperatur, sondern die Temperatur an der Eisoberfläche ausschlaggebend. Viele via Internet abrufbare Messstationen liefern (Schnee-) Oberflächentemperaturen. Diese sind ungefähr übertragbar auf die Eisoberfläche und können somit für die Tourenplanung verwendet werden.

Einfluss-Lufttemperatur-auf-Eisoberfläche
Linke Seite: Bei +5°C Lufttemperatur und 40% Luftfeuchtigkeit kühlt sich die Eisoberfläche im Idealfall bis auf -7.5°C ab. Rechte Seite: Wolken reflektieren Wärmestrahlung des Eises, so dass die Temperatur unmittelbar an der Eisoberfläche nur marginal abkühlt.

So beeinflusst die Temperatur an der Eisoberfläche die Eisstabilität und den Kletterspass

Die nachfolgende Grafik zeigt, wie sich Schwankungen der Temperatur an der Eisoberfläche auswirken. Man sieht, dass sich die Eisstabilität und der Kletterspass in einigen Situationen unterschiedlich verhalten.

Einfluss-Temperatur-auf-Eisstabilität

Die einzelnen Phasen

  1. Konstante, moderate Minustemperatur des Eises: Die Eiskletterverhältnisse sind bezüglich Eisstabilität und Kletterspass gut.
  2. Wenig stark ausgeprägter Temperatursturz: Im Eis bauen sich durch die ungleichmässige Temperaturverteilung vorübergehend Spannungen auf. Die Eisstabilität nimmt dadurch kurzzeitig etwas ab. Durch den Temperaturausgleich innerhalb des Eises bauen sich die Spannungen jedoch innert kurzer Zeit ab, und das Eis wird wieder stabiler. Der Kletterspass ist durch die Spannungen und die härtere und sprödere Eisoberfläche vorübergehend deutlich getrübt.
  3. Moderate Erwärmung, die Eistemperatur bleibt unter 0°C: Die Eiskletterverhältnisse sind bezüglich Eisstabilität und Kletterspass gut.
  4. Markanter und rascher Temperatursturz: Durch die ungleichmässige Temperaturverteilung bauen sich im Eis vorübergehend grosse Spannungen auf. Die Eisstabilität nimmt ab, und das Eis wird spröde und instabil. Filigrane Säulen und freihängende Zapfen können spontan brechen und runterfallen. Das Eis hat beim Setzen der Eisgeräte eine starke Tendenz zum Bersten. Der Kletterspass tendiert gegen Null, und das zuverlässige Setzen der Eisgeräte wird sehr schwierig und mühsam.
  5. Erwärmung, aber die Temperatur der Eisoberfläche bleibt unter 0°C:
    Die Eiskletterverhältnisse bezüglich Eisstabilität und Kletterspass werden wieder gut.
  6. Erwärmung über 0°C: Das Eis schmilzt und löst sich zunehmend vom Gelände. Die Eisstabilität nimmt ab und das Eis wird weich, hinterspült und gefährlich instabil. Der Kletterspass bleibt mit zunehmend weicher Eisoberfläche ganz passabel, jedoch läuft mehr (Schmelz)-Wasser.
  7. Einige Tage mit Temperaturen im negativen Bereich: Das Eis erholt sich langsam und friert wieder fest – dies unter der Voraussetzung, dass immer noch Wasser fliesst. Die Eisstabilität wird langsam wieder besser. Der Kletterspass wechselt rasch von gut zu sehr gut.

Petzl-Boreo

Petzl Boreo/Borea – Gut geschützt dank Top & Side Protection

Bei vertikalen Aktivitäten – so auch beim Eis- oder Mixedklettern – sind Stösse und Schläge an den Seiten ebenso häufig wie im oberen Kopfbereich.

Um den Kopf bestmöglich zu schützen, hat Petzl mit Boreo und Borea robuste Helme mit optimalem Aufprallschutz an den Seiten sowie im Vorder- und Hinterkopfbereich entwickelt.

Das Label Top and Side Protection steht dabei für den zusätzlichen Schutz, welcher über die Standardnorm (Schutz des Oberkopfes gegen herabfallende Gegenstände wie z.B. Eisschlag) hinausgeht.


Verbindung zwischen Fels und Eis

Negative Einflüsse: Warum sich Eis vom Fels löst:

  • Das Eis wird hinterspült. Dies geschieht, wenn (zu) viel Wasser fliesst und/oder wenn es zu warm ist. Die Route Hall of Fame in Allmen zeigt ein Extrembeispiel.
  • Bei Blue Magic, Oeschiwald, ist die Situation weniger eindeutig. Der Eisfall ist teilweise hinterspült.
  • Das Eis vertrocknet, dies geschieht durch Sublimation bei Fehlen von Wassernachschub und tiefer Luftfeuchtigkeit.
  • Insbesondere freihängende Eiszapfen können dermassen mächtig und schwer werden, dass sie unter dem Eigengewicht oder durch einen kleinen Störfaktor wie beispielsweise Wind, Temperatursturz oder das Setzen eines Eisgerätes brechen.
  • Die Farbe von degeneriertem Eis geht in ein blasses Hellgrau. Besondere Vorsicht ist bei nassem Fels in unmittelbarer Nähe des Eisfalls geboten. In diesem Fall ist der Eisfall zumindest teilweise hinterspült. Fliesst dazu viel Wasser, kann der Eisfall grossflächig und spontan kollabieren.

«Besondere Vorsicht ist bei nassem Fels in unmittelbarer Nähe des Eisfalls geboten.»

Peter von Känel

Begünstigende Einflüsse auf die Eisstabilität

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Die Verbindung  zwischen Fels und Eis ist ideal, wenn man durch das klare Eis wie durch Glas den Fels erkennt.

Aus etwas Distanz lässt der Farbton des Eises Rückschlüsse zu: Ein bläulicher Farbstich deutet auf gut verbundenes, kompaktes Eis.

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Zum Autor

Peter von Känel, Jahrgang 1973, ist Bergführer, Aviatik-Ingenieur und leidenschaftlicher Kletterer. Nicht nur mit dem Eis- und Mixedklettern, sondern auch mit dem Faktor Mensch setzt sich Peter bereits seit vielen Jahren intensiv auseinander.

Nebst einigen aufsehenerregenden Eis- und Mixed-Erstbegehungen wie beispielsweise der Route B.A.S.E im Lauterbrunnental, hat Peter viele extrem anspruchsvolle Routen wiederholt, teilweise als Bergführer.

Mit diesen Touren, sowie in vielen Diskussionen mit versierten Kletterkollegen, hat sich Peter über die Jahre einen grossen Wissensschatz über das Eis- und Mixedklettern angeeignet. In Kursen, Coachings und mit seinem neuen Lehrbuch gibt er dieses Wissen weiter.

Peter von Känel: Bergführer, Aviatik-Ingenieur und leidenschaftlicher Kletterer.
Peter von Känel: Bergführer, Aviatik-Ingenieur und leidenschaftlicher Kletterer.

Steep Frozen: Ein praxisbezogenes Lehrbuch

Diese Eis-Serie kratzt nur an der Oberfläche dieses faszinierenden Themas. Für all diejenigen, die es genauer wissen wollen, ist Anfang November 2022 ist das Buch Steep Frozen erschienen.

Dieses praxisbezogene Lehrbuch vom Peter von Känel fasst in kompakter Form eine Fülle von nützlichem Wissen rund ums Eisklettern, Mixedklettern und Drytooling zusammen.

Abschnitte zu mentalen Aspekten und Ausrüstung runden dieses übersichtlich strukturierte Werk ab. Dank dem kompakten Format lässt sich das Buch auch als nützliches Nachschlagewerk für unterwegs verwenden.

Das Buch ist im Filidor Verlag erschienen und kostet Fr. 32.00. Weitere Informationen inklusive Leseprobe und Leserfeedbacks findest du auch auf Peter von Känel’s Website.

Steep-Frozen-Peter-von-Känel

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Credits: Titelbild Peter von Känel

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