100 Extremklassiker angestrebt, 40 geschafft: Das turbulente Kletterjahr von Alba Lucia Neder

An Silvester 2022 gebar Alba Lucia Neder die verrückte Idee, innerhalb eines Jahres 100 «Pause-Touren» zu klettern. Was sie an dieser Challenge reizte, wie sie die Klettertouren aus Walter Pauses Sammlung «Im extremen Fels» erlebt hat und was sie aus diesem gewaltigen Projekt mitnimmt, erzählt die deutsche Kletterin im Interview.

Alba Lucia Neder liebt grosse Herausforderungen. Und sie liebt alpine Klettertouren mit ernsthaftem Charakter. Alpine Test-Pieces wie jene in Walter Pauses Sammlung «Im extremen Fels». Eine gute Handvoll dieser Touren hatte sie bereits wiederholt. Doch es sollten noch mehr werden, viel mehr. An Silvester 2022 setzt sie sich das verrückte Ziel, im kommenden Jahr 100 alpine Extremklassiker zu klettern. Das Pause Projekt war geboren.

Alba, du hast dir mit deinem Pause Projekt ja ziemlich was vorgenommen. Was hat dich an dieser Herausforderung gereizt?

Die Idee entstand kurz vor Silvester 2022. Ich war grad dabei, auf Extreme collect meine Touren einzutragen. Dabei stellte ich fest, dass ich deutlich weniger Klettereien aus «Im extremen Fels» geschafft hatte als gedacht.

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Selbst wenn ich jedes Jahr zehn machen würde, würde es noch zehn Jahre dauern, bis ich alle habe. Und da habe ich gedacht: Dann mach ich sie doch lieber alle in einem Jahr.

Alba Lucia Neder

Das hat natürlich nicht so ganz hingehauen, aber ich bin sehr stolz auf meine 40 Touren. Ich brauche so eine Herausforderung. Jetzt zu sagen: Okay, ich mache über die nächsten drei, vier Jahre alle, wäre nicht so ein richtig geiles Vorhaben gewesen. Deswegen habe ich mir gedacht, dass ich es versuche und ich werde auch noch weiter dranbleiben.

Im Heiligkreuzkofel Mittelpfeiler, der Tour, die sich als eine der prägendsten des Pause Projektes herausstellen sollte. Bild: Alba Lucia Neder
Im Heiligkreuzkofel Mittelpfeiler, der Tour, die sich als eine der prägendsten des Pause Projektes herausstellen sollte. Bild: Alba Lucia Neder

100 Klettertouren in einem Jahr sind rein schon vom Zeitaspekt her ziemlich herausfordernd. Hast du dir für dieses Projekt eine Auszeit genommen?

So quasi. Ich mache Übersetzungen, hauptsächlich für den Versante Sud Verlag vom Italienischen ins Deutsche. Ich hatte letztes Jahr relativ viele Aufträge gehabt und dieses Jahr wenige, und darum hat das gut gepasst. Ich versuche generell, meine Kosten so tief wie möglich zu halten, damit ich möglichst viel Zeit fürs Klettern habe.

Wie bist du dieses Megaprojekt organisatorisch angegangen?

Zu Beginn habe ich mir einen ganz genauen Plan gemacht, wie ich es mir vorstelle und welche Routen in welchem Monat gehen könnten. Ich weiss nicht, ob ich überhaupt eine Tour in dem Monat geklettert habe, wo ich sie geplant hatte, denn eine der grössten Herausforderungen war das Wetter. Und das fing ziemlich schlecht an.

Im Februar habe ich gerade mal drei Routen geschafft. Es war kalt, es lag Schnee, aber es ging. Im März und April kam nochmals dauernd Neuschnee. Neuschnee oder Regen, das war eine Katastrophe. Bis ich wirklich anfangen konnte, war es Ende Mai. Ich glaube ich hatte bis dahin erst zehn Touren. Die anderen 30 habe ich alle zwischen Juni und Oktober gemacht.

Wetter checken und Touren planen: Zwei Aktivitäten, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Projekt ziehen. Bild: Nicolas Det
Wetter checken und Touren planen: Zwei Aktivitäten, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Projekt ziehen. Bild: Nicolas Det

Und das Wetter war vermutlich nicht der einzige externe Einflussfaktor, oder?

Genau. Ich musste das Ganze viel spontaner angehen, als ich mir das gewünscht hätte, weil ich halt immer auf die Leute eingehen musste, mit denen ich geklettert bin. Und wenn die in der Schweiz waren, dann hatten die verständlicherweise keinen Bock, in die Steiermark zu fahren und umgekehrt. Ich musste die Routen schon ziemlich oft auf die Leute abstimmen.

Du bist mit vielen unterschiedlichen Partnern geklettert. Was war da zwischenmenschlich und auch in der Kommunikation am Berg für dich das Herausforderndste?

Ich bin eher jemand, der gerne mit Leuten klettern geht, die er gut kennt. Aber das sagt wahrscheinlich jeder. Ich bin auch sonst nicht so unterwegs, dass ich dauernd neue Leute treffen muss. Jetzt war ich aber irgendwie dazu gezwungen, was teilweise auch cool war. Ich habe super Kletterpartner gefunden, mit denen ich definitiv auch weiter klettern werde.

Das Anstrengendste war einfach, sich dauernd wieder auf jemand Neues einzustellen.

Alba Lucia Neder

Manchmal war ich noch im Abstieg von einer Tour und musste mir schon wieder überlegen, wo ich hinfahre und mit wem ich verabredet bin.

Alba Lucia Neder geht ihr Projekt Pause mit vielen unterschiedlichen Partnern an. An der Cima d'Ambiez mit Sybille Rödig. Bild: Nicolas Det
Alba Lucia Neder geht ihr Projekt Pause mit vielen unterschiedlichen Partnern an. An der Cima d’Ambiez mit Sybille Rödig. Bild: Nicolas Det

Wetter und Kletterpartner sind zwei ziemlich unvorhersehbare Faktoren. Wie gehst du damit um, nicht die Kontrolle zu haben?

Ich glaube, am Anfang hat es mich mehr irritiert, da ich mir bis Ende April vorgenommen hatte, so 20 Routen geklettert zu haben. Das war halt überhaupt nicht der Fall. Irgendwann nach ein paar Touren habe ich gemerkt: Ok, das funktioniert nicht, selbst wenn ich das will, das klappt so nicht. Ich muss einfach langsamer machen und mich über jede einzelne Tour freuen.

Es gibt keine Pause-Tour, die geschenkt ist.

Alba Lucia Neder

Ich habe mich irgendwann einfach damit arrangiert, dass es nicht so schnell läuft, wie ich es gerne hätte. Ich musste lernen, dass ich nicht zu viel erzwingen kann.

Ist es dir schwergefallen, dein ursprüngliches Ziel von «100 Pause Touren» auf «so viele wie möglich» umzuformulieren?

Ich glaube nicht, denn irgendwann war einfach klar, dass ich lange nicht so schnell vorwärts komme, wie erhofft. Es war bei einem Versuch in Chamonix, wo ich realisiert habe, dass ich wahrscheinlich noch nicht einmal die Hälfte der Touren dieses Jahr würde klettern können.

Mal wieder umdrehen müssen: Krise im Rätikon Anfang Juni. Bild: Nicolas Det
Mal wieder umdrehen müssen: Krise im Rätikon Anfang Juni. Bild: Nicolas Det

Ende Juni schien es, als hättest du eine richtige Sinneskrise gehabt. Gab es oft Momente, wo du dich und dein Projekt hinterfragt hast?

Ja. Ich würde sagen in den ersten Monaten öfter. Jetzt am Ende lief es einfach besser und flüssiger. Vielleicht auch deshalb, weil ich weniger erzwingen wollte.

Ich habe mich auch schon früher gefragt, warum ich mir das antue. Weil Klettern ist ja generell relativ sinnlos.

Alba Lucia Neder

Wenn man es neutral betrachtet, hat es keinen tieferen Sinn. Wenn man sich dann quält und leidet, Angst hat und friert, dann fragt man sich schon manchmal, warum man das macht.

Wie ich aus diesem Tief herausgekommen bin, weiss ich nicht genau. Ich glaube, dass ich einfach eine Pause gemacht habe – und das mitten im Sommer und trotz eines guten Wetterfensters. Das war schwierig. Ich hatte ein richtig schlechtes Gewissen, dass ich so lange Zeit nichts mache, obwohl das Wetter gut ist.

Und dann habe ich wieder angefangen, indem ich mir gesagt habe: Ich mache jetzt die Route, auf die ich richtig Bock habe, einfach, weil es mir Spass macht. Die Seekarlspitze Nordwand ist jetzt sicher nicht eine Route, die alle schön finden.

Aber ich fand die irgendwie geil. Es war halt anspruchsvoll, alpin, Schlaghaken, manchmal leicht moosig, aber irgendwie genau mein Stil. Und danach ging es wieder bergauf.

Alba Lucia Neder
Um aus dem Tief herauszufinden, verordnet sich Alba Lucia Neder im Sommer trotz guten Wetters eine ausgeprägte Zwangspause vom Projekt Pause. Bild: Nicolas Det
Um aus dem Tief herauszufinden, verordnet sich Alba Lucia Neder im Sommer trotz guten Wetters eine ausgeprägte Zwangspause vom Projekt Pause. Bild: Nicolas Det

Am Heiligkreuzkofel Mittelpfeiler musstet ihr die Rettung rufen. Warum bist du da so hart mit dir selbst ins Gericht gegangen?

Das war schwer. Für mich war es fast schwerer, die Rettung zu rufen, als zu sagen, okay, wir versuchen zu biwakieren. Rückblickend war es sehr gut, dass wir das gemacht haben, in jeder Hinsicht. Ich habe mittlerweile ein paar Mal am Gipfel biwakiert und ich weiss, wie kalt es geworden wäre mit den wenigen Klamotten, die wir dabei hatten.

Aber in dem Moment hat es sich angefühlt wie eine grosse Niederlage. Ich hatte mehr Erfahrung, ich hatte uns geführt und ich hatte uns da reingebracht. Die einzige sichere Möglichkeit, uns da rauszuholen, war es, die Rettung zu rufen. Aber das ist natürlich etwas, das man nicht gerne macht.

Es war eine Verkettung von Entscheidungen. Ich wollte viel und dachte, dass es schon gutgehen wird.

Alba Lucia Neder
Auch wenn viele grosse Pause-Touren im Schnee und Eis verlaufen, fühlt sich Alba Lucia Neder im Sandstein zuhause. Während einer Blindbegehung von Telefonzelle (7-) in Heubach/Odenwald. Bild: Nicolas Det
Auch wenn viele grosse Pause-Touren im Schnee und Eis verlaufen, fühlt sich Alba Lucia Neder im Sandstein zuhause. Während einer Blindbegehung von Telefonzelle (7-) in Heubach/Odenwald. Bild: Nicolas Det

Gab es andere Situationen in diesem Projekt, wo du deinen eigenen Ansprüchen nicht genügen konntest?

Ich habe gemerkt, dass ich mich ein bisschen vor den grossen Touren im Mont Blanc Gebiet drücke. Es entstand so eine Abneigung, weil ich ja einmal da war und es gar nicht lief. Ich habe gemerkt, dass ich wahrscheinlich zu grossen Respekt vor diesen Klettereien habe. Mehr, als ich mir eingestehen wollte.

Irgendwann habe ich mir eingestanden, dass ich noch nicht so weit bin für diese Touren und erst noch reinwachsen muss.

Alba Lucia Neder

Ich bin Kletterin und keine Bergsteigerin. Dieses ganze «Schnee und Eis» ist eher neu für mich. Darum wollte ich diese Touren mit Partnern machen, die in dem Bereich fitter sind als ich. Dann war es aber wieder schwierig, die Kontrolle abzugeben, da ich es in der Regel gewohnt bin, mindestens so viel Erfahrung zu haben wie der Seilpartner, oder eher mehr.

Alba in der Hasse-Brandler an der Großen Zinne. Bild: Johnny Demaine
Alba in der Hasse-Brandler an der Großen Zinne. Bild: Johnny Demaine

Gibt es Touren, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?

Der Heiligkreuzkofel wird mir definitiv in Erinnerung bleiben, einfach weil es halt gross und ereignisreich war. Das war schon ein krasses Erlebnis. Auf die Laliderer Nordwand Schmid-Krebs bin ich auch sehr stolz, da es sich angefühlt hat wie eine grosse Route, weil sie auch sehr lang und durchaus brüchig ist.

Als sehr schön habe ich die Schijenfluh Westverschneidung im Rätikon in Erinnerung. Die war einfach toll zu klettern. Ich würde fast sagen, die war eine der besten Routen. Die lief richtig gut und die hat einfach Spass gemacht von der Kletterei her.

Mir haben die Routen am meisten Spass gemacht, wo die Hauptschwierigkeit die Kletterei selbst war und nicht irgendwie der Zustieg, der Abstieg oder das Drumherum.

Alba Lucia Neder
Lang, brüchig, alpin: Die Laliderer Nordwand Schmid-Krebs ist ganz nach Albas Geschmack. Pause-Tour mit Sybille Rödig. Bild: Alba Lucia Neder
Lang, brüchig, alpin: Die Laliderer Nordwand Schmid-Krebs ist ganz nach Albas Geschmack. Pause-Tour mit Sybille Rödig. Bild: Alba Lucia Neder

Du hast insgesamt 40 Pause-Touren in einem Jahr geschafft. Was nimmst du daraus für dich mit?

Ich denke, dass ich richtig viel alpine Erfahrung gesammelt habe. Ich war kürzlich in Marokko und da wäre ich vermutlich nicht so gut aufgestellt gewesen, hätte ich das Jahr 2023 anders verbracht. Oder auch in im Sarcatal, meiner zweiten Heimat. Da bin ich Sachen entspannt angegangen, die ich vor zwei Jahren noch ganz anders wahrgenommen hätte.

Es waren definitiv tolle Erlebnisse, auch was die Entscheidungen angeht. Immer wieder neue alpine Erfahrungen zu sammeln und mit jeder Tour fitter zu werden für die Nächste, das war schon cool. Ich bleibe definitiv an diesem Projekt dran, habe aber natürlich noch viele Ideen für weitere Projekte.

Alba Lucia Neder

Wer mehr über Alba Lucia Neder und ihr Pause Projekt erfahren möchte, dem empfiehlt es sich, ihre Website zu besuchen und ihr auf Instagram @albomat3000 zu folgen.

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