Das Einstudieren von Bewegungsabläufen und die mentale Vorbereitung auf eine Route sind zentrale Erfolgsfaktoren beim Klettern. In diesem Zusammenhang spricht man von Visualisierung, einer Technik, die sich Adam Ondra für den Durchstieg von Silence (9c) zunutze machte. Sportphysiotherapeut Marc Wetter zeigt im heutigen Beitrag, wie ihr euer Kletterniveau dank gezieltem Mentaltraining erhöhen könnt.
Ein Beitrag von Marc Wetter von Marc Wetter GmbH
Nicht nur Nerven aus Stahl, Motivation und körperliche Fitness entscheiden über den Durchstieg eines Kletterprojektes. Die Umsetzung der technischen Bewegungsabläufe und die mentale Stärke sind fast ebenso entscheidend. Auf mentaler Ebene liegt oft mehr Potenzial drin, als man denkt. Viele Athleten berichten, dass der mentale Bereich 50% ihrer Leistung ausmacht. Trotzdem widmen sich weniger als 5% der Athletinnen und Athleten beim Training den mentalen Aspekten.
Plötzlich ist die Schlüsselstelle der Route gar nicht mehr so schwierig
Vielleicht ist dir auch schon passiert, dass du eine Route Meter für Meter projektieren musstest. Zu Beginn ist es sehr anstrengend, mit dem Üben gehen die einzelnen Sequenzen immer besser, schneller und sind weniger anstrengend. Dein Gehirn lernt und vernetzt Nervenzellen. Vielleicht kannst du dir die Route plötzlich fast auswendig vorstellen, obwohl du noch keinen Durchstieg vollbracht hast.
Wie kann ich als Hobbysportler meine mentale Vorstellungskraft mit meinem Training verbinden? Kann ich durch das Visualisieren schneller den Durchstieg einer Route erreichen? Kann ich das Visualisieren auch aus Spass lernen, wenn ich nicht so ehrgeizig bin und ich einfach gerne klettere?
Was ist Visualisieren?
Etwas verallgemeinert kann man es als Überbegriff für repetitives und bewusstes Sich-Vorstellen einer sportlichen Handlung z.B. eines Boulders oder einer Kletterroute beschreiben.
Diese Vorstellung kann ohne tatsächliche praktische Ausführung im Kopf geleistet oder sogar als Pausenübung genutzt werden.
Visualisieren bringt in sehr technischen Sportarten wie z.B. im Klettern oder Bouldern grosse Vorteile. Ebenso können Sportler in allen Phasen der Rehabilitation bei Verletzungen ihre technischen Bewegungsabläufe gedanklich stabilisieren.
Eingesetzt wird das Visualisieren beim Klettern, um Bewegungsabläufe zu verfeinern, Bewegungssequenzen zu spüren oder ganze Routen mental zu klettern.
Spitzenathleten können ihre Kletterbewegungen sehr realistisch visualisieren und kennen in ihrem Projekt jeden Tritt auswendig. Wo sind die Rastpunkte und was mache ich da? Wo klettere ich schneller? Wie atme ich? Wie bewege ich mich in der Crux? Wie fühlt sich die Bewegung in der Crux an?
Visualisierung war für den durchstieg von Silence (9c) von zentraler bedeutung
Was braucht es beim Visualisieren und wie geht man vor?
Visualisieren verlangt Konzentration. «Übung macht den Meister». Wer viel übt, kann viel erreichen. Ablenkung oder Abschweifen ist zu Beginn ganz normal. Entspanne dich und versuche es wieder und wieder und wieder.
Nimm dir ein paar Minuten Zeit. Sitze oder liege entspannt. Schliesse wenn möglich die Augen oder konzentriere dich auf einen fixen Punkt. Versuche störende Geräusche oder Gedanken ohne Wertung auszublenden.
Übe zu Beginn maximal 5 Minuten am Stück, aber täglich 2-3 Mal.
Versuche dir als Einsteigerübung zu Sequenzen aus deinem Alltag mit allen Sinnen vorzustellen: Sehen, Hören, Spüren, Geruch, (Geschmack). Z.B. Schuhe binden, zu Hause ankommen etc.
Danach versuche dir als fortgeschrittene Übungen deine Sequenzen, Bewegungsabläufe in der Halle oder am Fels vorzustellen. Übe zuerst einzelne Züge und verbinde die Züge danach.
Maximal 5-10 Minuten am Stück, täglich.
Tipps fürs Visualisieren
Video und Teamwork
Du kannst dich von einem Kollegen filmen lassen. Danach könnt ihr zusammen besprechen, was gut oder schwierig war. Verbesserungen können danach besser mental visualisiert werden. Ihr könnt euch gegenseitig abfragen, wie der Ablauf der Sequenz ist. Griff so, Tritt so, Zug so… etc.
Fotoshooting
Einzelne wichtige Passagen der Bewegung oder die Crux werden fotografiert, ausgedruckt und visualisiert.
Realitätscheck
Stelle dir einen Besuch in deiner Kletterhalle vor. Versuche dir deinen Besuch farbig, in Bewegung vorzustellen. Nimm den Geruch wahr und höre, welche Geräusche vorhanden sind. Versuche nun deine Sequenz oder Route ebenfalls mit den Sinnen wahrzunehmen.
Zeitcheck
Als Ziel sollte die Visualisierung einer Bewegung oder Sequenz genau der Zeit entsprechen, die du in Realität hast. Stoppe die Zeit und verbessere dich.
Ideomotorik-Training
Kombiniere deine Bewegungen mit der Vorstellung. Mach mit den Armen die Züge der Route in der Luft, versuche mit den Füssen gedanklich auf die Tritte zu stehen. Klettere deine Route mental, atme an den Rastpunkten. Stoppe deine Zeit.
Fazit
Wer exakt, realistisch und zeitlich optimal visualisieren kann, hat definitiv Vorteile beim Erlernen der Bewegungsequenz, in der optimalen Leistungsumsetzung, im Erreichen seines Potentials und als Prävention für Verletzungen. Es ist ein spannendes Feld mit anderen zu diskutieren, voneinander zu lernen und sich gegenseitig Lösungen vorzutragen oder zu pushen.
Über Marc Wetter
Marc Wetter ist Geschäftsführer der Marc Wetter GmbH, Sportphysiotherapeut ESP. Er betreut Hobby -und Leistungssportler bei mentalen Herausforderungen und ist leidenschaftlicher Kletterer.
www.marcwetter.ch
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Credits: Titelbild AO Productions