Katherine Choong und Mathilde Becerra klettern mit Kindern im Libanon

Im Oktober 2019 fuhren die beiden Kletterprofis Katherine Choong und Mathilde Becerra in den Libanon. Auf ihrer Reise unterstützten die beiden das Hilfswerk Climbaid bei der Durchführung eines Kletterwettkampfes. Nachfolgend berichtet Katherine Choong von einem Klettertrip der etwas anderen Art.

Ein Bericht von Katherine Choong

Als Beat Baggenstos auf mich zukam und mir die von ihm gegründete Organisation Climbaid vorstellte, war ich sofort begeistert. Wenn ich einen Klettertrip mache, egal ob ich eine bestimmte Route durchsteigen oder ein neues Land entdecken will, dreht sich normalerweise alles um mich. Diesmal kam noch etwas anderes hinzu: meine Erfahrung und meine Leidenschaft für das Klettern mit jungen Menschen zu teilen, die nicht von den Privilegien, die ich als Kind hatte, profitieren konnten.

Mit dem «Rolling Rock», einer mobilen Kletterwand, die auf einen Kleinlaster gebaut wurde, besucht Climbaid seit 2016 jeweils von April bis November Schulen, Gemeinschaftszentren und syrische Flüchtlingslager im Libanon.

Ziel ist nicht nur, die Kinder an regelmässige sportliche Aktivitäten heranzuführen, sondern auch, durch das Klettern die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu fördern, die kriegsbedingt in prekären Verhältnissen leben. Zudem sollen sie Sozial- und Lebenskompetenzen erwerben und wieder Selbstvertrauen erlangen.

Seit diesem Jahr verfügt die Organisation auch über eine kleine feste Kletterwand in Taanayel, an der die Jugendlichen jede Woche trainieren. Sie befindet sich auf dem Gelände von Arcenciel, einem NGO-Partner von ClimbAID.

Dank meinem Partner Mammut, der mich bei diesem Projekt unterstützte, konnte ich zusammen mit Mathilde Becerra für sechs Tage in den Libanon reisen. In Beirut landeten wir mitten im Zentrum des Aufstands des libanesischen Volkes gegen seine Regierung.

Das Leben schien vorübergehend stillzustehen. Die Strassen waren menschenleer, die Geschäfte und Schulen geschlossen, ausser arabischen Liedern war nichts zu vernehmen. Nur Spruchbänder und Graffiti deuteten darauf hin, dass eine Revolution im Gange war.

Obwohl im Libanon 18 verschiedene Religionsgemeinschaften Seite an Seite leben, ging die Bevölkerung jeden Abend in einem Ausbruch von Solidarität gemeinsam auf die Strasse, um gewaltfrei gegen die Regierung zu demonstrieren. Auch wenn ich nicht behaupten kann, das ganze Ausmass des Konflikts erfasst zu haben, nahm ich in den Augen der Demonstranten viele Emotionen wahr, ihren Wunsch nach Veränderung, aber auch Freude und Hoffnung.

Die Demonstranten hatten zahlreiche Strassen blockiert, aber nach ein paar kurzen Umwegen gelang es uns, Beirut am nächsten Tag mit dem Auto zu verlassen, um in Richtung Beqaa-Ebene zu fahren und uns Beat und den anderen Climbaid-Freiwilligen anzuschliessen, die uns herzlich begrüssten: Marlène, Lena, Deniz, Jameson und Mohammad, der Projektleiter vor Ort. Die Fahrt war ein Abenteuer für sich, denn die Verkehrsregeln sind – sagen wir mal: anders als unsere. Es war das erste Mal, dass ich auf der Autobahn rückwärts gefahren bin!

Das Ziel der Woche war, bei der Organisation eines Freundschafts-Boulderwettkampfs mitzuhelfen, für den die jungen Libanesen und Syrer, die regelmässig an den Klettersessions von Climbaid teilnehmen, hart trainiert hatten – ein Anlass, auf den sie sich schon seit Wochen freuten.

Zwischendurch unterbrachen wir das Routensetzen, und Beat und Mohammad nahmen uns in ein Flüchtlingslager mit, um junge Kletterer zu treffen, die das Climbaid-Training besuchten. Draussen spielten die Kinder barfuss mit Abfall, den sie auf der Erde gefunden hatten. Die Unterkünfte waren aus Zeltplanen und wiederverwendetem Material improvisiert. Mir lief schon die Gänsehaut, wenn ich mir nur vorstellte, unter solchen Bedingungen den Winter zu verbringen.

Nicht nur der begrenzte Zugang zu Wasser und Strom sei ein Problem, erklärte uns Mohammad, der als unser Dolmetscher fungierte, sondern auch, dass bei starkem Regen die Zelte häufig überflutet würden.

„Ich bekam Gänsehaut, wenn ich mir nur vorstellte, unter solchen Bedingungen den Winter zu verbringen.“

Eine Familie lud uns ein und bot uns freundlich Tee an. Wir zogen unsere Schuhe aus und betraten eines der Zelte.

Als wir uns mit den Jugendlichen unterhielten, erfuhren wir, dass die Jungen am Wettkampf teilnehmen würden, die Mädchen aber nicht mitmachen könnten. Weil sie das Heiratsalter erreicht hätten, erklärten uns die Mädchen, sei es leider nicht mehr angemessen, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, nicht einmal an den für Frauen reservierten Trainingssessions von Climbaid. Sie waren zwischen 14 und 16 Jahre alt.

„Mohammad erzählte uns, dass diese Jugendlichen letztes Jahr die Schule besuchten, dass aber in diesem Jahr leider kein Platz mehr für sie gewesen sei.“

Das Treffen mit den Jugendlichen hat mir erneut bewusst gemacht, wie privilegiert wir sind, in einer fürsorglichen Umgebung aufgewachsen zu sein. Grundrechte wie jenes auf Bildung sind für uns, im Gegensatz zu ihnen, selbstverständlich.

In einer Zeit, in der sich alles an der Leistung orientiert, in der es so wichtig ist, einen Grad höher klettern zu können, einen Sieg in einem Wettkampf nach Hause zu bringen oder eine bestimmte Route abgehakt zu haben, sollten wir uns daran erinnern, welch grosses Glück es bedeutet, einfach klettern zu können – unsere Leidenschaft leben zu können. Das relativiert unsere kleinen Probleme, die manchmal so bedeutungslos sind.

Am Tag des Wettkampfs kamen im Morgengrauen mehr als 40 junge libanesische und syrische Jugendliche an. Weil sie so früh dran waren, halfen sie uns spontan beim Aufstellen der Tische und Stühle, damit wir den Rest der Teilnehmer begrüssen konnten. Es berührte mich, dass die Jugendlichen zu uns kamen, um sich mit uns auszutauschen und uns zu sagen, wie glücklich sie waren, uns zu treffen.

„Sie waren sehr an unseren Wettkampferfahrungen interessiert und stellten uns viele Fragen über das Training und Methoden, um stärker zu werden.“

Nach dem gemeinsamen Aufwärmen begann der Wettbewerb. Die Teilnehmer kletterten abwechselnd und mit bemerkenswerter Energie und Motivation die 15 Boulderrouten, die wir vorbereitet hatten. Kein einziger Fluch, keine Tränen; jeder gab alles, um so gut zu klettern, wie er konnte, aber ohne jemals wütend zu werden. Und sobald sich die Gelegenheit bot, wie bei einer grossen Feier, begannen die jungen Leute zu singen und zu tanzen. Mehrmals während des Tages boten mir die sehr grosszügigen Teilnehmer einen Apfel, Datteln und leckeren Kuchen an.

Das Finale wurde eine Wahnsinns-Show in einer spannungsgeladenen Atmosphäre! Als wir uns verabschiedeten, umarmten sich alle, gratulierten sich gegenseitig, und die Jugendlichen dankten uns.

Wenn ich an den Libanon denke, erinnere ich mich an das Lächeln, die freundliche Aufnahme und die Liebenswürdigkeit der Menschen, sei es mitten in einer Demonstration in Beirut, in der weiten Ebene von Beqaa oder in einem Flüchtlingslager. Wir hatten keine Gelegenheit, am Fels zu klettern, aber Tannourine ist berühmt dafür, dass es ein grossartiger Ort zum Klettern ist.

Ich konnte mich vom Engagement und der grossartigen Arbeit überzeugen, die Climbaid in den letzten Jahren geleistet hat. Der Organisation ist es gelungen, eine echte Gemeinschaft zu schaffen und den Teilnehmern so viele Momente des Glücks zu ermöglichen. Wie Beat es so gut ausdrückt: «Es ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein, aber ein Tropfen, der zählt! Jeder kann etwas beitragen und einen Unterschied machen.»

Schliesslich wurde mir klar, dass diese jungen Menschen mir viel mehr gegeben haben, als ich ihnen gegeben habe. Und mir wurde bewusst, wie sehr diese Jugendlichen uns ähneln. Es sind junge Menschen, die wissbegierig sind, die voller Freude sind und Träume im Kopf haben.


Über das Hilfswerk Climbaid

Ausser im Libanon engagiert sich Climbaid auch im eigenen Land. In mittlerweile sechs Kletterhallen der Schweiz können Asylsuchende kostenlos an Bouldersessions teilnehmen. Damit soll nicht nur die physische und psychische Gesundheit der Geflüchteten gefördert werden, auch soziale Kontakte sollen ermöglicht werden. An der Initiative nehmen die Boulderhallen Minimum in Zürich, Cityboulder in Kriens, GLKB in Näfels und O’Bloc in Bern sowie die Kletterhalle 6a plus in Winterthur und das Kletterzentrum in St. Gallen teil. Weitere Gruppen sind im Aufbau.

Die Projekte von ClimbAID werden finanziell massgeblich von Minimum Bouldering, Refugio Kalandraka und Transa untertützt.

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www.climbaid.org

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Credits: Titelbild Jameson Schultz / Climbaid, Übersetzung ins Deutsche Karin Steinbach Tarnutzer

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