«Den Gletscher seilfrei zu traversieren war eine Fehleinschätzung»

Silvan Schüpbach, Peter Von Känel und Carlos Molina begehen mit Das Kuckucksnest eine neue Route in der Nesthorn Nordwand. Auf dem Rückweg kam es zu einem Spaltensturz, der glücklicherweise glimpflich ausging. Ein Bericht von Silvan Schüpbach und Peter von Känel.

Ein Erfahrungsbericht von Silvan Schüpbach und Peter von Känel

Ein langer Zustieg, ein fünf Sterne Zeltplatz, eine neue Route und ein Spaltensturz waren die Zutaten für das Bergabenteuer vom 19. bis 21. Februar 2025. Zu dritt eröffneten Silvan Schüpbach, Peter von Känel und Carlos Molina eine neue Route über den Nordwestpfeiler aufs Nesthorn. Die lange Route bietet schöne, moderate Mixedkletterei in meist gutem Fels in einer wilden Umgebung.

Das Trio auf dem Gipfel des Nesthorns
Das Trio nach erfolgreicher Begehung auf dem Gipfel des Nesthorns.

Das Nesthorn (3820 m) ist ein ästhetischer Berg, gut versteckt zwischen dem Lötschental und er Belalp. Die Nordwand des Nesthorns wurde 1933 durch Welzenbach und Drexel erstbegangen. Obwohl es bereits fünf Routen durch die Nordwand gibt, war der Nordwestfeiler bislang unberührt geblieben. Das war für uns der Grund, eine Reise ins abgelegene Oberaletschgebiet anzutreten.

Schnell im Fels, langsamer im Schnee

Schwer beladen gelangten wir mit den Tourenskis am 19. Februar von der Belalp via Oberaletsch- und Beichgletscher zum Wandfuss. Auf 2900 m, direkt unter dem mächtigen Nordwestpfeiler, fanden wir einen perfekten Zeltplatz. Am nächsten Morgen stiegen wir mit dem ersten Tageslicht ein. Wir kletterten mit den Skischuhen und da wir nicht wussten was uns erwarten würde, hatten wir zur Sicherheit die komplette Biwakausrüstung dabei. Der Fels war überraschend kletterfreundlich und gut absicherbar. Wir kamen zügig vorwärts und erreichten bereits nach sechs Stunden den Punkt 3404 m.

Sofern gut gefroren, griffiger Fels und gute Sicherungsmöglichkeiten. Eine lohnende Tour an
einer der abgelegensten Wände der Schweiz.
Sofern gut gefroren, griffiger Fels und gute Sicherungsmöglichkeiten. Eine lohnende Tour an einer der abgelegensten Wände der Schweiz.

Von hier folgten wir knapp östlich des Grates der historischen Route von Kirkpatrick und Hope. Der weiche Schnee und unsere schweren Rucksäcke verlangsamten unser Vorwärtskommen und so standen wir schliesslich erst kurz vor Sonnenuntergang, 10 Stunden nach unserem Aufbruch, auf dem Gipfel.

10 Stunden nach Aufbruch standen wir kurz vor Sonnenuntergang auf dem Gipfel.

Wir stiegen im oberen Teil über den Normalweg ab und kürzten im unteren Teil durch einen steilen Gletscherarm ab. Nach 13 Stunden waren zurück bei unserem Zelt.

Entscheid mit fatalen Folgen

Am nächsten Morgen querten wir den Beichgletscher, um via Beichpass ins Lötschental zu gelangen. Nach unserer Beurteilung war der Gletscher spaltenarm, gut eingeschneit und mit den Tourenskis problemlos seilfrei zu begehen. Dies stellte sich wenig später als fatale Fehleinschätzung heraus. Völlig unerwartet brach Peter durch eine Schneebrücke in eine Gletscherspalte ein.

Völlig unerwartet brach Peter durch eine Schneebrücke in eine Gletscherspalte ein.

Gute Momente in der Route Das Kuckucksnest_Nesthorn Nordwand_Schüpbach_von Känel_Molina

Nach einer Rutschpartie von knapp 20 Metern stoppte ihn eine Verengung mit einem kleinen Schneepodest. Glücklicherweise konnten wir ihm eine Reepschnur runterreichen und ihn wenige Minuten später rausziehen. Er war nur leicht verletzt und wir konnten unseren Rückweg ins Lötschental fortsetzen.

Nach unserer Beurteilung war der Gletscher spaltenarm, gut eingeschneit und mit den Tourenskis problemlos seilfrei zu begehen.

Wie ist es möglich, dass uns erfahrenen Alpinisten und Bergführern eine solche Fehleinschätzung unterlief? Dieser glimpflich ausgegangene Zwischenfall ist eine grosse Chance für uns und alle Interessierten, das eigene Tun kritisch zu hinterfragen und daraus zu lernen.

Im Fels kam das Trio schnell voran_Schüpbach-von Känel-Molina_Nesthorn_Das Kuckucksnest
Im Fels kam das Trio schnell voran.

Lesson learnt

Hier sind unsere wichtigsten Erkenntnisse: Einerseits sind Routine und ein grosser Erfahrungsschatz unabdingbare Voraussetzungen, um überhaupt ein solch anspruchsvolles Bergprojekt voller Ungewissheiten mit vertretbarem Risiko anzugehen. Andererseits neigt man mit zunehmender Erfahrung dazu, Risiken mit tiefer Eintretenswahrscheinlichkeit systematisch zu unterschätzen. Viele Tage unseres Lebens verbrachten wir mit Tourenskis auf Gletschern und seilten wir uns häufig an, um potenzielle Spaltenzonen zu traversieren.

Man neigt mit zunehmender Erfahrung dazu, Risiken mit tiefer Eintretenswahrscheinlichkeit systematisch zu unterschätzen.

Dies, ohne jemals in einen Spaltensturz involviert zu sein. Über die Jahre relativierte sich für uns so die Gefahr eines Spaltensturzes immer wieder und wir wurden in unserem Glauben bestärkt, wir beherrschten das sichere Traversieren von Gletschern mit Tourenskis. Diese Wahrnehmungsfalle wird als „non-event feedback“ bezeichnet. Besonders Profis mit viel Erfahrung neigen dazu, ihre Fähigkeiten zum Einschätzen seltener Risiken systematisch zu überschätzen. So hatten wir intuitiv das trügerische Bauchgefühl, die kurze Strecke über den Beichgletscher sei problemlos seilfrei zu bewältigen.

Fokus auf der Erstbegehung lenkte von Gefahr ab

Ein weiterer Faktor war die Tatsache, dass wir unsere Mission, nämlich unsere Erstbegehung, am Vortag erfüllt hatten und folglich „nur“ noch der Rückweg in die Zivilisation anstand. Bezüglich Umgang mit Risiken waren wir in erster Linie auf unsere Erstbegehung fokussiert und das „einfache“ Handwerk, wie das Traversieren dieser Gletschermulde, nahmen wir dadurch auf die leichte Schulter. Diese Fokussierung auf die Risiken im Zusammenhang mit der Hauptschwierigkeit kann der Wahrnehmungsfalle „Festlegung“ zugeschrieben werden.

Wir nahmen das Handwerk der Traversierung der Gletschermulde auf die leichte Schulter.

Unabhängig von der Schwierigkeit einer Tour, bewegen wir uns beim Bergsteigen alle jeweils in einem Rahmen, der durch die Faktoren Verhältnisse, Gelände und Mensch abgesteckt wird. Um unsere Risiken effektiv zu kontrollieren, müssen wir diesen Rahmen ausreichend fehlertolerant ausgestalten. Gerade Risiken mit tiefer Eintretenswahrscheinlichkeit und hohem Schadenspotenzial wie ein Spaltensturz verdienen besondere Aufmerksamkeit. Für die Entscheidung, ob wir uns mit Tourenskis auf einem Gletscher anseilen, werden in uns Zukunft folgende Frage stellen: Kann ich mit einer plausiblen Begründung ausschliessen, dass es verborgene Spalten hat? Falls nein, wird angeseilt, selbst wenn einen das Bauchgefühl ausreichend Sicherheit suggeriert.

Sofern gut gefroren, griffiger Fels und gute Sicherungsmöglichkeiten. Eine lohnende Tour an einer der abgelegensten Wände der Schweiz.

Das könnte dich interessieren

+++
Credits: Bild und Text Silvan Schüpbach und Peter von Känel

Aktuell

00:19:52

Die erste 9A+? Adam Ondra probiert Fontainebleaus schwerstes Projekt

Mehr Fontainebleau in einem Boulder geht nicht: Adam Ondra widmet sich der legendären Sloper-Linie Imothep Assis, einer potenziellen 9A+.

Erster Boulder-Weltcup der Saison in Keqiao: Infos, Programm & Livestream

Die IFSC-Weltcupsaison startet mit dem ersten Weltcup im Bouldern vom 18. bis 20. April in Keqiao, China.
00:20:11

Motivation, Routinen, Verletzungen | Will Bosi teilt Trainingsgeheimnisse

Leistenmeister Will Bosi gibt Einblicke in sein Training und erklärt, warum die stärksten Finger der Welt nicht unbedingt genetisch sind.

Nicolas Hojac und Philipp Brugger durchsteigen Eiger, Mönch & Jungfrau in 15 Stunden und 30 Minuten

Mit 15 Stunden und 30 Minuten pulverisieren Nicolas Hojac und Philipp Brugger den 21 Jahre alten Rekord von Ueli Steck und Stephan Siegrist an den Nordwänden von Eiger, Mönch und Jungfrau.
00:19:52

Die erste 9A+? Adam Ondra probiert Fontainebleaus schwerstes Projekt

Mehr Fontainebleau in einem Boulder geht nicht: Adam Ondra widmet sich der legendären Sloper-Linie Imothep Assis, einer potenziellen 9A+.

Erster Boulder-Weltcup der Saison in Keqiao: Infos, Programm & Livestream

Die IFSC-Weltcupsaison startet mit dem ersten Weltcup im Bouldern vom 18. bis 20. April in Keqiao, China.
00:20:11

Motivation, Routinen, Verletzungen | Will Bosi teilt Trainingsgeheimnisse

Leistenmeister Will Bosi gibt Einblicke in sein Training und erklärt, warum die stärksten Finger der Welt nicht unbedingt genetisch sind.