Ausgleichstraining ist gut – wenn’s richtig gemacht wird | Tipps

Patrick Matros und Dicki Korb trainieren namhafte Spitzenathleten wie Alexander Megos und sind mit ihrer Trainingsbibel «Gimme Kraft» weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Volker Schöffl hat sich als Kletterarzt international einen Namen gemacht. Auf Lacrux präsentiert das Trio fortan kletterspezifisches Ausgleichstraining nach ACT. Worum es bei ihrem Adjunct Compensatory Training geht, erklärt dieser Artikel.

Ein Beitrag von Patrick Matros, Dicki Korb und Volker Schöffl

Modernes Klettern und Bouldern sind Sportarten, die eine enorm hohe Anzahl an Freiheitsgraden in ihren Bewegungen erfordern. Das Kernziel besteht darin, immer neue Bewegungsprobleme zu lösen. Deshalb wird auch von offenen Bewegungsfertigkeiten gesprochen, die es beim Klettern und Bouldern zu entwickeln gilt.

Die Vielzahl an unterschiedlichen Bewegungen ergibt sich zum einen beim Outdoor-Klettern aus verschiedenen Gesteinsarten (Kalk, Granit, Sandstein, usw.) und deren spezifischem Griff- und Trittformen bzw. Unterschieden in der Gesteinsreibung.

Unterschiedliche Gesteinsarten erfordern eine Vielfalt an Bewegungen. Bild: Unsplash/Petr Slovacek
Unterschiedliche Gesteinsarten erfordern eine Vielfalt an Bewegungen. Bild: Unsplash/Petr Slovacek

Zum anderen setzt sich der Siegeszug des Indoor-Kletterns fort, bei dem unterschiedlich steile Wandneigungen und Oberflächenreliefs, die in den unterschiedlichsten Winkeln zueinander stehen sowie zahllose Griff- und Trittformen, für eine schier endlose Zahl an Variationsmöglichkeiten sorgen. Vor allem im modernen Indoor-Bouldern werden momentan in dieser Hinsicht die Maßstäbe gesetzt.

Analyse von Verletzungen und Überlastungserscheinungen

Diese Vielfalt an Kletterbewegungen, bestehend aus Zug-, Stütz-, Stemm-, Dreh- und Schwingbewegungen, macht es sehr anspruchsvoll herauszufinden, wo die «Schwachstellen» im Bewegungsapparat des kletternden Menschen liegen, die aufgrund von Vernachlässigung oder Überbeanspruchung die Ursache für Überlastungserscheinungen oder Verletzungen beim Klettersport darstellen.

Volker-Schöffel

Volker Schöffel

Volker ist Sektionsleiter der Sportorthopädie
am Klinikum Bamberg, Mannschaftsarzt des
Deutschen Kletterteams und wahrscheinlich der
bekannteste deutsche «Kletterarzt» überhaupt.
Er ist natürlich selbst ambitionierter Kletterer
und Boulderer und ist für über 100
Erstbegehung bis 8b/fb8a+
verantwortlich.

Ein erster evidenzbasierter Schritt ergibt sich durch eine zielgerichtete Analyse von fachärztlichen Diagnosen über Kletterverletzungen und Überlastungserscheinungen und deren Anamnese. Der Sportmedizinische Stützpunkt des Klinikums Bamberg unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Schöffel gehört hier zu den weltweit führenden Institutionen.

In einem weiteren Schritt geht es darum, problematische Bewegungsmuster beim Klettern ausfindig zu machen, die entsprechende funktionelle Anatomie zu verstehen und zu analysieren, wo sich einseitige Kontraktionsmuster und limitierte Bewegungsreichweiten zu myofaszialen Dysharmonien und Dysbalancen entwickeln können.

Ziehen, stemmen, stützen: Die Bewegungsvielfalt beim Klettern macht es schwierig, Schwachstellen im Bewegungsapparat zu ermitteln. Bild: Unplash/Sophie Grieve Williams
Die Bewegungsvielfalt beim Klettern macht es anspruchsvoll, Schwachstellen im Bewegungsapparat zu ermitteln. Bild: Unplash/Sophie Grieve Williams

Der Mythos vom Antagonistentraining

Dabei stellt man schnell fest, dass ein undifferenziertes «Antagonistentraining», wie es mittlerweile oft beschrieben, praktiziert und beworben wird, größtenteils an der Idee eines präventiven Ausgleichstrainings vorbeigeht.

«Die Ansicht, dass es beim Klettern antagonistische Muskulatur gebe, die mit der Zeit aufgrund mangelnder Innervierung „verkümmere“ und deswegen „aufgebaut“ werden müsse, zeugt von einem eher naiven Verständnis der funktionell-anatomischen Zusammenhänge im menschlichen Körper.»

Patrick Matros

Sinnvolles Ausgleichstraining als ACT-Training

Mit unserem Adjunct Compensatory Training verfolgen wir das Ziel, einseitige Bewegungsmuster zu kompensieren und Strukturen des Bewegungsapparates, die einer hohen Belastung durch sportartspezifische Techniken ausgesetzt sind, zu stärken.

«Beim Adjunct-Compensatory-Training spielt das Erlernen funktioneller Bewegungsmuster und deren Transfer in die entsprechende Kletterbewegung eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus versuchen wir, vernachlässigte Muskelgruppen gezielt zu integrieren.»

Patrick Matros

Wir praktizieren jedoch kein Kraftaufbau-Training im Sinne einer simplen Antagonisten-Hypertrophie, sondern orientieren uns an Kriterien wie einer hohen aktiven Kontrolle einer ausgewogenen ROM (Range of Movement) des Muskel-Gelenk-Komplexes mit dem Ziel einer ausgewogenen und funktionellen Körperhaltung und entsprechender Innervationsmuster funktioneller Muskelketten.

Patrick-Matros

Patrick Matros

Patrick ist Dozent für Sport- und Erziehungs-
wissenschaft am Staatsinstitut Bayreuth. Er hat
einen Masterabschluss in Sport- und Erziehungs-
wissenschaften und ist zertifizierter Sporttherapeut
und Athletiktrainer. Patrick hat 20 Jahre Klettererfahrung
mit ca. 200 Begehungen für Routen zwischen 8a und 8c.

Darum gehts beim ACT-Training

  • Erhalte einen hohen und funktionellen und Bewegungsradius in deinen Gelenken, die durch Sport und Arbeitsalltag einseitig beansprucht werden.
  • Versuche, eine möglichst hohe aktive neuromuskuläre Kontrolle dieses Bewegungsradius zu erreichen, zum einen durch gezielte Kräftigung der Muskulatur in endgradigen Bewegungen, zum anderen durch harmonische und funktionelle Bewegungsmuster

Für die Praxis bedeutet dies, dass es meist nicht auf die visuelle Attraktivität der Übung ankommt, die oft durch beeindruckende und kraftgenerierte Körperpositionen sowie das Erzeugen von mehr und mehr Instabilität durch entsprechende Trainingsgeräte bestimmt wird.

«Dieser „Coolness“-Faktor der Übung ist leider oft das entscheidende Argument diverser Tutorials in einschlägigen Online-Videochannels. Vielmehr kommt es auf kleine Bewegungen und ein gutes Körpergefühl an, um die entsprechenden Schwachstellen zu erreichen.»

Patrick Matros

Dies bringt den Akteur nicht selten in Bewegungspositionen, die sich erst einmal unangenehm anfühlen. Doch genau dort wird mit dem Schritt heraus aus der Komfortzone der eigentliche Trainingsreiz gesetzt, der zu den erwünschten Anpassungen führt.

Dicki-Korb

Ludwig «Dicki» Korb

Dicki ist Sportkletter- und Functional
Trainer, Therapeut und Pädagoge. Er
klettert seit 35 Jahren und hat 20 Jahre
Erfahrung im Klettertraining mit einer
Vielzahl der besten Athleten dieses Sports,
und hat das weltbekannte Trainingsbuch
«Gimme Kraft» zusammen mit Patrick Matros
geschrieben.

ACT-Training: Was es ist und was es nicht sein will

Nehmen wir uns ein populäres Beispiel aus der Trainingspraxis: Die I-Y-T-Übung am Slingtrainer. Bei dieser Übung zieht man den gesamten Körper aus einer mehr oder weniger nach hinten geneigten Körperposition heraus mit gestreckten Armen im Ellenbogengelenk  in eine weniger geneigte bzw. aufrechte Position. Dies erfolgt in drei Zugvarianten der Arme:

  • Anteversion der gestreckten und maximal abduzierten Arme („I“)
  • Elevation bei 45° Abduktionswinkel im Schultergelenk („Y“)
  • Retroversion bei 90° abduzierten Armen („T“).

«Die I-Y-T-Übung trifft unsere Vorstellung einer ausgleichenden und kompensierenden Trainingsübung für den Klettersport nur marginal, ihre Schwächen überwiegen deutlich ihre Stärken.»

Patrick Matros

Grundsätzlich wird mit der Übung das Ziel ausgegeben, bestimmte Muskelgruppen des Schultergürtels zu stärken, die einer problematischen Haltung im Bereich des Rumpf-Wirbelsäulen-Komplexes vorbeugen oder diese verringern. Gleichzeitig soll der so genannte «core» (also der Körperkern im Sinne der Rumpfmuskulatur) beansprucht und trainiert werden.

Bei der I-Y-T-Übung wird nun durch eine Art «Gegenbewegung» in drei verschiedenen Armstellungen versucht, genau die Muskeln zu kräftigen, die beim upper cross Syndrom eine Kompensation bewirken sollen. Eigentlich ist das eine gute und sinnvolle Sache.

Video: Eine von zahlreichen Anleitungen zur Y-Übung am Sling-Trainer

I-Y-T-Übung und die Tücken der Kompensation

Im Konzept unseres ACT-Trainings kommt es aber gerade auf die in der betriebenen Sportart vernachlässigte ROM der entsprechenden Muskeln und Muskelschlingen an (maximale Öffnung des Arm-Rumpf-Winkels) und diese wird bei der I-Y-T-Übung so gut wie nicht erreicht, denn es kann bereits vorher massiv mit der Lendenwirbelsäule kompensiert werden, weil die Übung in Halfplank- bzw. Standhaltung, also «offener LWS» ausgeführt wird. Gerade diese Problematik wird gerne als zusätzlicher Übungsvorteil im Sinne eines Core-Trainings umgedeutet. Sie geht jedoch am eigentlichen Ziel vorbei!

Wir empfehlen stattdessen z.B. als Übung für eine Verbesserung der aktiven Kontrolle der maximalen ROM im Arm-Rumpf-Winkel die Übung «Arm heben im Fersensitz», die eine isolierte Kontrolle («geschlossene LWS») und somit Verbesserung der problematischen Innervationsmuster gewährleistet und dennoch den propagierten Vorteil des Sling-Trainers – Üben in funktionellen Muskelschlingen – bewahrt.

«Dieses Beispiel soll keineswegs bedeuten, dass wir den Sling-Trainer als Trainingsgerät ablehnen, im Gegenteil, wir schätzen ihn sehr! Dennoch erheben wir den Anspruch jede populäre Übung schonungslos auf ihre Stärken und Schwächen bezüglich unserer Zielstellungen zu analysieren.»

Patrick Matros

Übungen mit Fokus auf Schultern:

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Credits: Titelbild Frank Kretschmann und Kaletsch Medien

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